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Hanno Erdwein
VORWEIHNACHT
(Ein Stimmungsbild)
Durch die Menschenmassen der Innenstadt, an dichtumlagerten
Schaufenstern vorüber, an gehetzten Gesichtern, entstellt vom
Weihnachtszwang, schlängelt sich Alex, die Schulmappe unterm
Arm. Seit zwei Stunden hat er Ferien und mit diesem Gefühl kann
man nicht einfach wie jeden Tag nach Hause gehen. Das will mit
allen Sinnen ausgekostet sein. Man möchte es hinausschreien,
Luftsprünge machen oder sich im Schnee wälzen, wenn welcher
gefallen wäre. Da ist nur die Innenstadt mit dem Geknatter der
Motoren, dem Rasseln und Schrillen der Straßenbahn oder den
Püffen der Vorüberhastenden als Ventil für seinen Überschwang.
Nach Hause gehen lohnt sich ohnehin nicht. Um Fünf muß er
zum
Zahnarzt. Aber an den will er jetzt noch nicht denken. Wind
kommt auf und läßt die Zweige der Weihnachtsdekoration auf
und
nieder schwanken. Hier und dort greift jemand nach seinem Hut,
der schon - hui - davonsegelt. Ein heilloses Durcheinander
entsteht aus getretenen Zehen, nervösen Ellebögen und Flüchen.
Die Weihnachtsstimmung wird brüchig. Eine dunkle Wolkenwand
kriecht von Westen herauf und legt sich schwer auf die Stadt.
"Vielleicht doch noch Schnee?" Alex hüpft vor Erwartung
auf
einem Bein weiter und sieht gebannt nach oben, wo es immer
finsterer und finsterer wird ... "Nun paß doch auf Junge!"
...
da wäre er beinahe in einen Stand mit Christbaumkugeln
gepurzelt. "Hallo Alex!" Betty Fährmann winkt ihm von
der
anderen Straßenseite zu. Immer wieder verschwindet ihr
sommersprossiges Näschen hinter einem Auto. Sie schwenkt eine
Tüte. Sicher knabbert sie wieder gebrannte Mandeln. Das erinnert
ihn an sein Loch im Zahn und er winkt flüchtig zurück. Vor
der
Kaufhalle dichtes Gedränge. Kinder bewundern einen fetten
Weihnachtsmann der mit behandschuhter Rechten jedem die Hand
reichen will. Aber die kleinen Hände bleiben leer und bald
laufen die Kinder in Richtung Rolltreppe davon um auf ihr
lachend und quiekend herumzutoben. Der Wind hat sich gelegt. Bis
auf wenige glühend rote Streifen im Westen ist es dunkel. "Die
Engel backen Plätzchen", erklärt Mutter solches Himmelsfeuer.
Und der süßliche Dunst der Zuckerfabrik wie auch der Duft
von
Zimtsternen, Spekulazius und Printen, der aus dieser oder jener
geöffneten Ladentür auf die Straße weht, unterstreicht
ihr
frommes Märchen. Wie alle Jahre ist auch diesmal die
Fußgängerzone mit einem spitzgiebligen Dach aus Tannengrün
geschmückt. Jetzt flammt dort zwischen Zweigen, Bändern und
Glitzerglocken ein Sternenhimmel elektrischer Kerzen auf, aus
dem sacht die ersten weichen Federflocken fallen. "Schnee!"
Alex
sperrt weit den Mund auf und läßt einen der leichten Kristalle
auf seine Zunge sinken. Es schmeckt kalt, verheißungsvoll und
eine Spur nach Abenteuer. Rings schnellen Schirme hoch und
wehren das Weiße ab, das sich vorerst als schmutzige Pfützen
um
die Schuhe der Vorübereilenden breitmacht. Alex genießt den
kalten Flausch auf seiner Nackenhaut. Er verabscheut Mützen und
erst recht hochgeschlossene Kragen, die ihn einengen. Er braucht
den Hautkontakt mit seiner Umgebung und sträubt sich bis zur
ersten starken Erkältung gegen Mantel und Schal. Nun stellt er
sich vor, wie unter dem steten Flockenfall das schmutziggraue
Kopfsteinpflaster der Veithgasse verschwinden und mit einem
weißen, wohligweichen Teppich die Häßlichkeit der Altstadt
zugedeckt wird. Die kugligen Steinköpfe am Schultor, denen
Kinderhände gern Kreidegesichter ihrer Lehrer aufmalen, tragen
sicher schon bauschige Kappen. Und Hausmeister Friesel, bucklig
und grau hinter der Scheibe voll Fliegenschiß, brummelt
griesgrämig in sich hinein und ist's dennoch zufrieden, weil
Ferien sind und er nicht den Schneebesen über den Schulhof zu
schwingen brauch und den "verdammten Bengels" nicht die
Schlitterbahn versalzen muß. "Aber das wird eine Schlitterbahn,
Junge, glatt wie Glas und schnell wie der Teufel! 'ne Bahn über
fünfhundert Meter, die ganze Veithgasse durch, vom Luchstor
runter bis zur Holtumer Straße! - Brrr!" Nun wird ihm das
Kissen
auf seinem Nacken doch zu feucht und er schüttelt sich wie ein
Hund. Fröstelnd flüchtet er in den Eingang von Hertie. Warmluft
bläst ihm die Flocken vom Haar und kriecht unten in seine
Hosenbeine. Hinter der Pendeltür "Stille Nacht" und
Kassengeklingel. Ein Gemisch der absonderlichsten Düfte wird vom
steten Käuferstrom hierhin und dorthin getragen. Alex reiht sich
ein und läßt sich durch die bunte Vielfalt, das scheinbar
harmonische Nebeneinander von Verkaufsinteresse und Feststimmung
treiben. Schilder locken: "Einmaliges Angebot!", oder mahnen:
"Jetzt zugreifen!". Er schlendert vorüber. Nur einmal
löst er
sich aus der Schlange und steht eine Weile still vor der großen
Platte, wo in endloser Schleife elektrische Züge dahinschnurren.
Links durchschneiden die Schienen ein Dorf, weiter hinten
überspannen Brücken ein Tal und die Lichterkette des einen
und
dann wieder des anderen Zuges verschluckt der Tunnel. Vorn aber,
dicht vor Alexens Nase, steht ein kompletter Bahnhof mit
Rangiergleisen und einer Drehscheibe, die sich auf Knopfdruck in
Bewegung setzt. "Wenn das hier, oder nur etwas davon - ein
kleiner Schienenkreis mit nur einer Lok und höchstens ein zwei
Wagen zum Heiligen Abend ..." Kopfschüttelnd reißt er
sich los;
denn über den Traum schiebt sich das Bild seines Vaters, der auf
einer freien Ecke des Küchentischs die kleinen Ausgaben der
Woche adiert. Die Mutter im blaugepunkteten Kittel beugt sich
über seine Schulter und greift hilflos nach ihrem Haarknoten im
Nacken.
Pschsch zischen die Autos vorüber, schleudern Schneemassen auf
die dichtvermummten Gestalten an der Ampel. Die Normaluhr über'm
Taxistand zeigt fünf vor fünf. Hastig springt Alex die breiten
Steinstufen hinauf, um sein Herzklopfen nicht zu hören. Oben an
der Koridortür überlegt er: "Wenn jetzt der Zahnarzt
geschlossen
hat? Vielleicht ist er krank geworden. Oder, wenn es mir jetzt
schlecht wird und ich nach Hause muß?" - Dann klingelt er.
Der Bohrer rumort im Zahn. Dicht vor dem rechten Auge bewegt
sich der weiße Arm des Arztes. Es tut höllisch weh und man
müßte
die Zähne zusammenbeißen können. Aber dort schnurrt
der
verdammte Bohrer und frißt sich tiefer und tiefer in den
Schmerz. "Wir kriegen eine Schlitterbahn. Zum Teufel, die
kriegen wir!"
Der Bus rollt langsam über die Lüdener Straße der Altstadt
entgegen. Leuchtreklamen werden spärlicher. Weihnachten versinkt
im Schmutz der Gehsteige. Vereinzelt schneiden Neonleuchten ein
Stück fleckiger Fassade aus der Nacht und zeigen die ganze
Trostlosigkeit der Armut. Regen trommelt ans Wagenfenster,
löscht das dünne Weiß auf der Fahrbahn. Vorsichtig leckt
Alex an
seiner Plombe. "Eine Stunde nichts kauen", hat der Zahnarzt
gesagt.
(c) HE Dezember 1978
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