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Hanno Erdwein
Eine Verwandlung
"Ganz schön interessant!", murmelte er und ging weiter.
Das
Geschaute blieb noch Sekunden auf seiner Netzhaut. Wurde aber
gleich von neuen Eindrücken überlagert, verdrängt. Er
sollte sich
jedoch später recht intensiv daran erinnern.
"Was gibts zu essen?" Renate sah vom Herd herüber. "Tag,
sagt man, wenn man hereinkommt." Bruno verzog angewidert den
Mund. Fortwährend diese läppischen Erziehungsversuche. Da
waren sie gut zehn Jahre verheiratet. Und sie hatte immer
noch diesen ekelhaften Gouvernantenton drauf. Lag es daran,
daß sie kinderlos geblieben waren, weshalb sie ihn ständig
erziehen mußte? Und gerade das konnte er fürs Verrecken
nicht ausstehen.
"Tach!", brummte er, ging zum Kühlschrank
und griff nach der Flasche Pils. Zog mit dem Schlüssel den
Kronkorken herunter und goß sich einen tüchtigen Schluck
in
den Schlund.
"Mein Gott, Bruno! Gleich gibt es Abendbrot.
Mußt Du da vorher noch Bier trinken?"
Er setzte die Flasche ab. Rülpste leise. Plinkerte sie verärgert
an und meinte
gereizt: "Müssen nicht. Aber ich hab nun mal Durst."
Hob die
Flasche und leerte sie demonstrativ.
"Ekelhaft", zischte Renate.
Das reichte! Bruno stapfte wütend hinaus. Ließ sich im Wohnzimmer
in seinen Lieblingssessel fallen. Drückte die Fernbedienung des
CD- Players. Die bevorzugte Scheibe lag noch im Schacht. Rockrhythmen
hämmerten durch den Raum. E-
Gitarren jaulten auf und schufen leicht verzerrt und rückgekoppelt
einen agressiven Sound, in den man eintauchen konnte. Sein Fuß
hämmerte mit. Er schwamm auf einer Wolke des Wohlseins. Und alles
andere ging ihm am Arsch vorbei.
"Muß das so laut sein?!" Renate stand ihm Türrahmen.
Stemmte
die Fäuste in die Seiten und funkelte böse. Er ignorierte
sie. "He, ich spreche mit Dir!"
Keine Reaktion. Sein Fuß taktete sich weiter durch den Refrain.
Sie machte drei
Schritte, stand vor dem Verstärker und regelte den Ton
herunter. Jetzt fuhr Bruno auf: "Sag mal, spinnst Du?" "Das
wollte ich Dich die ganze Zeit auch fragen. Du kommst
grußlos nach hause. Füllst Dich mit Bier ab. Dröhnst
die
Gegend mit Rock voll und kümmerst Dich einen Dreck darum, ob
das andere stört."
"Bist Du jetzt fertig?"
"Im Prinzip schon. Aber ..."
"Ok, dann kann ich ja weiterhören." Ihr blieb die Spucke
weg. War das noch Bruno? War das der Mann,
den sie verehrt, fast schon angebetet geheiratet hat? Ein
Mann voller Zärtlichkeit, Einfühlungsvermögen und
Verständnis für alles, was sie betraf. Was hatte die jüngste
Zeit nur aus ihm gemacht?! Resigniert schlug sie die
Wohnzimmertür hinter sich zu und verkroch sich in die Küche.
Gleich brandeten die harten Rhythmen wieder auf. So ging das
seit etlichen Wochen. Was war geschehen? Ihn Bruno gefahren?
Hatte ihn derart verändert?
Sie gab Gemüsebrühe in den Topf und ließ den Inhalt
aufkochen. Dabei rotierten die Ereignisse zusammenhanglos
durch ihren Kopf. Kirmesplätze. Faschingsfeste. Presseball.
Nichts davon fügte sich zu einer plausiblen Erklärung für
Brunos Verhalten zusammen. Etwas Einschneidendes mußte
vorgefallen sein, was zu der Verwandlung geführt hatte. Ein
Ereignis, eine Begegnung ... Da war doch vor vier Monaten
... oder waren es fünf? Ach ja - diese Kur. Doktor
Schindanger hatte sie ihm seines hartnäckigen
Bronchialleidens wegen verordnet. "Und sie wollen nicht
mit?" Renate dachte an die viele Arbeit, an die Wochen, in
denen sie einmal ungestört das Haus auf den Kopf stellen
konnte. "Nein, lieber nicht. Fühl mich gesund und frisch wie
ein Fisch im Wasser." Der Medizinmann hatte sie daraufhin so
merkwürdig angesehen. "Gut. Sie müssen es ja wissen."
Und
Bruno fuhr allein nach Hohentann.
Sicher hatte es ihn geärgert, daß Renate ihn nicht begleiten
wollte. Im nachhinein aber war es ihm ganz recht. "Mensch! Bruno!
Was Besseres kann Dir doch gar nicht passieren! Seine Kollegen
grinsten und schlugen ihm kameradschaftlich auf die Schulter. "Du
hast einen Freifahrschein in fremde Betten." Bruno tat das ab.
"Bin glücklich verheiratet." Mitleidiges Lächeln.
Blicke, als
würde ein seltenes Exemplar Schwachsinn taxiert. Darauf Abwinken
und ein flüchtiges "Na, dann mal gute Reise!"
Luftkurort Hohentann. Nordrand des Hochgebirges. Rauhes aber
bekömmliches Klima. Essen, Schlafen, ausgiebige Spaziergänge
durch nadelwald. Plätschernde Bäche. Rotwild und kühle
Auengründe. Anfangs hielt sich Bruno für sich. Das
Schwadronieren und Herumlärmen in der friedlichen Natur lag
ihm nicht. Er galt bald als Einzelgänger. Bei den Mahlzeiten
- hier gab es nur Vierertische - unterhielt man sich über
seinen Kopf hinweg. Ihn störte das nicht.
Dann aber ... und es schlug ein wie eine Bombe. Selma kam. Selma
sah. Selma siegte. Bruno schmolz wie butter an der Sonne. Bruno
wurde von grundauf umgekrämpelt. Kein Teil von ihm blieb, wie es
vorher war. Das war nicht mehr Bruno. Nein, das war Selmas
Produkt.
Was war denn nun so Besonderes an dieser Selma? Eigentlich
nichts. Äußerlich und von fern betrachtet war sie ein eher
unscheinbares Mädel von nicht ganz zwanzig Jahren. Halblanges
Kastanienhaar. Augen graugrün. Stupsnase. Zum Spott neigender
Kirschmund. Wangengrübchen. Für eine Frau eher etwas groß
mit
ihren einsfünfundsiebzig. Haltung leicht vorgebeugt. Mit Renate
konnte sie kaum konkurrieren. Aber dennoch ...
In der ersten Woche erhielt Renate täglich eine Postkarte.
"Ich liebe Dich. Du fehlst mir. Warum kannst Du nicht hier
sein?" Das machte sie glücklich. Auch sie vermißte Bruno
sehr. Seine Nähe. Sein leises Schnarchen in den nun
unnatürlich stillen Nächten. Ob sie doch noch nach Hohentann
...? Nein! Sie steckte mitten im Gewühl. Die Teppiche waren
zusammengerollt und mit Feuereifer bearbeitete sie das
Parkett. Nur jetzt nicht sentimental werden! Wenn Bruno
zurückkam, sollte das Haus glänzen wie eine
Schmuckschachtel! Aber dann ... dann kam gar nichts mehr. In
den ersten drei Tagen dachte sie sich nichts dabei. Karten
können verlorengehen. Werden falsch einsortiert. Kommen dann
verspätet alle auf einmal. Gut, sie hatte genug zu tun und
keine Zeit für überflüssige Sorgen. Als dann aber eine
ganze
Woche verstrich ohne ein Lebenszeichen von Bruno - nicht mal
ein kurzes Telefongespräch - da geriet sie dann doch in
Unruhe. Lange kämpfte sie mit sich, bis ihr der Höhrer in
der Hand lag und sie die Rufnummer eintippte: "Ist dort
Sanatorium Hohentann? ... Wie bitte? ... Ja, hier spricht
Frau Lebach. ... Was sagten Sie? ... In der Tat, eine
schlechte Verbindung. Lebach. Ich hätte gern meinen Mann
gesprochen. ... Wie war das? Zur Zeit nicht im Haus? Muß er
denn nicht liegen? ... Ach so. Spaziergang. Ja, das muß auch
sein. Gut dann ... ich melde mich wieder." Aber Renate hatte bei
weiteren Versuchen ebensowenig Glück. "In der Anwendung? ...
Ach
so, er bekommt Massage." Oder: "Ist gerade zu Tisch? Schade.
Hätt
ihn doch gern kurz gesprochen. ... Nicht gestattet? Nun, ..."
Seufzer. "Hausordnung ist nun mal Hausordnung." Und allmählich
bekam sie das Gefühl, der Dame an der Zentrale lästig zu werden.
Daraufhin ließ sie eine Woche verstreichen.
Mit Bruno war etwas vorgegangen, das er sich nicht erklären
konnte. Er fühlte sich gewaltsam aus seinem Schneckenhaus
gerissen und nackt in die Sonne geworfen. Das war ein
Schock. Das war Selma. Ein kurzer Blick von ihr genügte, ihn
abstürzen zu lassen. Sein Hirn wurde leer, war ausgepumpt
und ward mit Selma gefüllt. Renate? Ein totes,
nichtssagendes Attribut, das zu jemandem auf einem anderen
Planeten gehörte. Hier existierte was, das ihm höchst
lebendig schien: Selma.
Kaum erinnerte er sich, wie es geschah. Er verließ den
Fahrstuhl und wär beinah in sie hineingelaufen. "Pardon!"
Sie lachte. Es war ein perlendes Lachen, als würde man
kleine Glaskugeln in einem Gefäß durcheinanderschütteln.
Dies Lachen und der graugrüne bis in die Zehenspitzen
dringende Blick. Das war es, was ihn aus der Bahn warf.
"Bitte schön." Er hielt ihr die Fahrstuhltür auf,
kaum
bewußt, was er da tat. "Danke, aber ich wollte gar nicht
...
war auf dem Weg in die Bibliothek." Diese Stimme. Überaus
feminin und ein ganz klein wenig rauchig. Bruno verkrampft
lächelnd: "Genau dorthin wollte ich auch."
Dann bei den Wandregalen. "Sie interessieren sich für
Korallenfische?" Selma trug den Bildband an einen Tisch.
Blätterte kurz darin. Brummte bejahend. Er beugte sich mit
über die Unterwasseraufnahme: "Sind Sie denn schon mal
getaucht?" Keine Antwort. Ihre schmale Hand blätterte
weiter. "Phantastische Fotos. Die Kamera ... mein Gott, wenn
man die hätte." Sie nahm ihren Blick von den Bildern und
fixierte ihn: "Was dann? Wenn man die hätte?" Sein Mund
wurde trocken unter diesen Scheinwerfern, diesen
Seelenaussaugern. Er leckte sich die papiertrockenen Lippen:
"Mit einer solchen Kamera und der entsprechenden
Taucherausrüstung ... ja stellen Sie sich das nur mal vor.
Urlaub in der Südsee. Riffe und Lagunen." Sie ließ nicht
von
ihm. Er begann zu stottern. "Ja und dann?" Schweigen.
Peinlichkeit, die sie mit keiner Silbe zu mildern dachte.
Was für ein Weib! Zitternde Knie. Griff nach der Stuhllehne.
Setzen. Und immer noch an dieses Augenpaar gefesselt.
Spöttisch ihr Mund. Unnachgiebiges Nachhaken: "Ja, was
würden Sie dann tun wollen?" Räuspern. "Nun - ja
... ich
würde wunderschöne Fotos schießen. Hab einen Blick dafür."
Noch breiteres Spottlächeln: "Weshalb denn?" "Erstens,
weil
es Spaß macht. Und zweitens bringt es was ein." Ironischer
Seufzer: "Wer sich eine solche Kamera leisten kann, braucht
mit den Fotos kein Geld zu verdienen. Weshalb dann noch
Korallenfische ablichten, wo es bereits genug Bilder gibt?"
Unter anderen Umständen hätte er zu einer scharfsinnigen
Erwiderung angesetzt und ihre Argumente
auseinandergepflückt. Doch die Worte blieben ihm im Hals
stecken. Die Augen hakten immer noch nach ihm. Ihre finger
blätterten dabei weitere Seiten um, die sie nicht beachtete.
"Es wird so viel Unsinniges auf der Welt getrieben. Ganze
Paradiese gehen sinnlos vor die Hunde." Sie klappte den
bildband zu und löste den Augenkontakt. "Viele sehen sich
solche Bilder an und bekommen Lust, ebenfalls auf Jagd zu
gehen. Ja, ich benutze absichtlich dieses agressive Wort. Es
sind Jäger, Wilderer, die fühlos und ohne Rücksicht auf
das
Zerstörerische ihres Tuns überall eindringen und Verwüstung
hinterlassen." Bruno nickte - konnte nicht anders als
Zustimmung bekunden. Dabei war es verrückt! Er, der
Journalist wußte es anders, richtiger und hätte dieser
Ökotante manche argumentative Breitseite verpassen können.
Doch nun suchte er fieberhaft nach Worten in seinem leeren
Hirn. Leer? Nein, da nistete sich immer stärker das Bild,
die Stimme, das Wesen Selmas ein und nahm ihn in Besitz.
Mein Gott! Er war verliebt!
Renate stöckelte nervös den Bahnsteig auf und ab. Endlich
dröhnte die Lok an ihr vorüber und brachte Bruno. Aber
brachte sie ihn wirklich? Das war nicht Bruno, der da völlig
geistesabwesend aus dem Wagen stieg, sie mit einem
flüchtigen Kopfnicken begrüßte und wie ein Fremder vor
ihr
her durch den Ausgang auf die Straße ging. "Was ist mit
dir?" Sie konnte kaum seinen langen Schritten folgen und kam
bald außer Puste bei dem Bemühen, einen Blick von ihm zu
erhaschen. "Bist du krank? Hab ich dir etwas getan? Sag
doch, was mit dir ist!" Er winkte ab, rief ein Taxi herbei
und ließ sich neben den Fahrer in den Sitz fallen. Renate
kletterte wütend auf die hintere Bank. Am liebsten hätte sie
Bruno angeschrien. Aber vor dem türkischen Taxifahrer wollte
sie sich diese Blöße nicht geben.
Daheim bildete sich dann nach und nach das tägliche Ritual aus
Ignoranz, Rücksichtslosigkeit und Kälte heraus. Sie sprachen
nur
das Nötigste miteinander. Morgens verließ er das Haus und
kam -
wenn er überhaupt nach Hause kam - erst am späten nachmittag,
wo
er früher nicht rasch genug vom Bürosessel in ihr Bett wechseln
konnte.
Früher ... Bruno war ein zärtlicher und einfühlsamer
Liebhaber. In den zehn Jahren ihrer Ehe hatte es keinen Tag
gegeben, wo sie nicht seine Zuneigung körperlich und
seelisch gespürt hatte. Und das hier war ein krasses
Gegenteil von allem.
"Bruno - was ist nur mit dir? Sag mir doch bitte, ob ich etwas
falsch gemacht habe. So kann es doch nicht weitergehen!" Er
starrte vor sich hin auf die Leuchtanzeige des Players und
klopfte taub für ihre Worte den harten Rhythmus auf den Boden.
"Ist irgendwas passiert? Hast du in der Kur etwas erlebt, mit dem
du nicht fertig wirst?"
Über die Kur hatten sie noch kein Wort miteinander
gesprochen. Ihre Konversation beschränkte sich seit seiner
Rückkunft auf die praktischen Dinge des alltags und bestand
aus Satzfragmenten. Sie hatte es aufgegeben, ihm zu zeigen,
wie sehr sie unter diesem Zustand litt und weinte nur noch
dann, wenn sie allein war. Und das war sie häufig genug.
"Komm heute Abend nicht nach Hause", warf er nun wieder hin
und
knallte die Haustür zu. Dann hörte sie, wie der Motor seines
Wagens ansprang und die Reifen den Splitt der Einfahrt
aufwirbelten. "Fahr du nur", knirschte sie und biß sich
in den
handballen. "Ich möchte wetten, da steckt ein Weib dahinter."
Das aber mutmaßte sie, ohne zu ahnen, wie richtig sie mit dieser
Vermutung lag. Im Stillen hielt sie Bruno gar nicht für fähig,
ihr fremd zu gehen. In all den Jahren hatte er nicht einmal einen
Blick auf eine andere Frau geworfen. Und Gelegenheit dazu gab es
in Hülle und Fülle. Allein schon die Kolleginnen, mit denen
er
täglich Umgang hatte, waren ausschließlich jung und hübsch.
Aber
Bruno sah sie nicht, sah nur sie, Renate, die er liebte. Und nun?
Liebte er sie nicht mehr? Jagte er einer anderen nach?
Korallenfische! Da war das Plakat wieder. Vorhin noch hatte
er es nur mit dem Augenwinkel gestreift und war daran
vorübergegangen. Jetzt verhielt er den Schritt und blieb
stehen. Ein ähnliches Foto war auch in den Bildband, den
Selma mehr als einmal in der Bibliothek von Hohentann
durchgeblättert hatte. Er sah diese grazilen Geschöpfe und
roch gleiczeitig wieder selmas Parfum. Er sah, roch und
spürte, obschon das unsinnig war. Selma weilte einige
hundert Kilometer entfernt und ging ihrer Arbeit nach.
Dennoch hielt sie ihn am langen Band, an dem sie mehrmals
kräftig zog, damit er sich an sie erinnerte. Es war jedesmal
ein Ruck, der ihn durchfuhr, der ihn zu seinem Handy greifen
ließ, seine Finger ihre Nummer wählen und atemlos auf ihr
"Hallo" lauschen. "Ach du bist das", kam es meist
kühl von
der anderen Seite. "Ich dachte nur gerade an dich und wollte
hören, wie es dir geht." "Ach ja?" Selma war nicht
eine spur
wärmer als damals, wo er zum ersten mal mit ihr in diesen
Bildband geblickt hatte. "Geht es dir gut? Was treibst du
schönes?" QDanke, es geht. Ich lese." "Ja? Ist es
was
Interessantes?" "Sicher. sonst würde ich es nicht lesen."
Eiskalt und rational. Das war typisch Selma. "Soll ich am
Wochenende runter kommen?" "Wenn du meinst ..." Kein
freudiges "Ja" oder "das wär fein". Nur dieses
"wenn du
meinst". Statt, daß es ihn abkühlte, peitschte es seine
Sinne nur noch mehr auf. Vielleicht hätte mehr
Nachgiebigkeit und zärtliches Verhalten ihn auf Dauer
gelangweilt und zu Renate zurückgeführt. Aber das
Unterkühlte dieses Mädels wirkte überraus aphrodisierend
auf
ihn.
Sie lagen nebeneinander. Selmas Lider waren halb
geschlossen. Die tiefstehende Sonne spiegelte sich mit
goldenen Punkten auf ihrer Iris. Die Zweige der Weide
durchfächelte leiser Luftzug. Eine rohrdommel meldete sich
vom Wasser her. Grillen gaben ein Abendkonzert. Brunos Finger
spielten mit ihrem Haar. Selmas Brüste, Selmas Schoß waren
ihm
zugewandt. Aber nicht ihre Seele. So tief er auch in sie
eindrang, er fand sie nicht. Ihre Orgaßmen kamen und gingen, ohne
daß sie Spuren hinterließen. Er hätte den Vergleich
mit Renate
ziehen können, die ihn stets nach ihrer Erfüllung liebevoll
in
ihre Arme schloß. Aber an sie wollte, durfte er nicht denken.
Er
lag hier neben Selma, dieser Sphinx, dem weiblichen Rätsel
schlechthin. Ihr Blick weilte nie auf Augenhöhe mit ihm, sah
fortwährend in irgendwelche Fernen über ihn hinweg. Und wenn
sie
ihn einmal auf ihn herabsenkte, dann, um ein spöttisches und
verwundertes Lächeln zu zeigen, das fragen wollte: Wie? bist du
immer noch da?
Der Küchentisch wirkte unaufgeräumt. Renate hatte nicht die
kraft, ihn wie früher für das Frühstück liebevoll
zu decken.
Außerdem achtete Bruno kaum auf das, was er aß. Stopfte
alles in
unsinniger Hast in sich hinein und verschwand grußlos. An diesem
Morgen endlich mal ein Wort von ihm: "Sollen wir uns trennen?"
Das fuhr ihr wie ein Dolchstoß durch den Leib. Schon standen ihr
Tränen in den Augen. "Sei nicht so albern sentimental. Du
spürst
doch, was los ist!" "Was ist denn los? Du sprichst ja nicht
darüber." "Ach Quatsch. Ich hab dieses alberne Affentheater
bis
hierhin satt, verstanden? Ich will raus aus dieser ... dieser ...
verdammten Fessel!" "Wer fesselt dich denn?", krächzte
sie
heiser und schluckte an ihren Tränen. "Dein verdammtes
Heulsusengesicht", brüllte er los. "Ich kann es einfach
nicht
mehr sehen, ist das klar?!" "Was ist nur mit dir passiert,
lieber
Bruno, liebster Bruno? Ich hab dir nie ..." "halt doch das
Maul
und lamentier nicht fortwährend herum. Das nervt mich unendlich.
Wenn du wüßtest, wie mich das nervt ...!
Ein paar Tage später kam er mit konkreten Vorschlägen, sich
zu trennen. Renate schüttelte den Kopf: "ich will, ich kann
dich nicht loslassen. Eines Tages wirst du wieder der sein,
der du einmal warst." Wütend sprang er auf und stellte sich
drohend vor sie hin. Nackter haß versprühte sein Blick. Er
hob drohend die Faust. "Du wirst mich doch nicht schlagen?!"
Mit angstgeweiteten Augen sah sie ihn an. "Das tust du doch
nicht, liebster Bruno." "Da hast du den liebsten Bruno!"
Seine Faust schoß vor und hieb in ihr Gesicht. Der Schlag
ließ sie taumeln. Blut quoll ihr aus dem Mundwinkel. "Das
bist doch nicht du, Bruno, mein Bruno!" Die Rehaugen
blickten ihn immer noch verwundert, und vorwurfsvoll an.
Quälten ihn mit diesem Dulderblick. Das aber ließ seinen
Jähzorn noch mehr entflammen. Nebel legte sich auf sein
Denken und Fühlen. Er ballte die Hände, öffnete sie und
verkrampfte sie wieder. Wenn nicht dieser Blick gewesen
wäre! Renates Märtyrerblick, der durch den nebel hindurch
ihn quälte. Es flimmerte vor seiner Pupille. Fische
schwammen durchs Gesichtsfeld. Korallenfische. Er hob seine
Hände und frückte sie gegen die Lider. Das half nichts.
Wütend nahm er sie weg und hatte erneut Renates verwundeten
Vorwurf vor sich. "Sieh mich nicht so an!", zischte er und
reckte seine Hände fast automatisch nach ihrem Hals. Das
Erstaunen, Erschrecken wurde intensiver. Und daraus wurde
panische Angst. Bevor sie einen ton herausbringen konnte,
würgte er sie.
Wieder ging ein Sommertag zu Ende. Selmas nackte Haut
schimmerte rotgolden im Abendlicht. Sie sah ihn an und ihr
Mund war spöttisch verzogen. "Du hast es getan?" Etwas
griff
eiskalt nach Brunos Rückgrat. "Was soll ich getan haben?"
Ihr Spott wurde breiter und zeigte makelloses Zahnweiß:
"Mach mir nichts vor. Ich weiß, daß Du sie umgebracht
hast.
Du konntest nicht anders, du Schlappschwanz."
(c) HE März 2004
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