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Übelauge

Ein Märchen vom Blindsein

von Hanno Erdwein

 

Vor langer, langer Zeit, als es noch nicht so viel Lärm auf
der Welt gab und es so still war, daß man sogar die
Vogelsprache verstand, als die Menschen noch Zeit hatten,
sich den kleinen Dingen zu widmen, als die Liebenswürdigkeit
noch selbstverständlich war, lebte in einer Fischerhütte
Hans, ein nicht ganz fünfzehnjähriger Junge. Er und seine
Eltern ernährten sich recht und schlecht vom Fischfang. Der
Vater fuhr jeden Morgen auf's Meer hinaus. Die Mutter
wirtschaftete emsig im kleinen Haus, bis es blitzte. Und
Hans - tja, der saß den ganzen Tag in der Sonne und lauschte
dem Gesang der Vögel. Ihr fragt euch mit Recht, weshalb er
nicht dem Vater beim Fischen oder der Mutter beim
Reinemachen geholfen hat. Die Antwort ist: Hans war blind.

Oft kam ein etwa gleichaltriges Mädchen vorbei und leistete
Hans Gesellschaft. Grete, die Tochter des Nachbarn. Dann
saßen die beiden auf einer Klippe und Grete erzählte dem
Hans, was sie sah. Und das machte sie so gut, daß sich der
Junge alles lebhaft vorstellen konnte. Grete hatte ihren
Hans schon lange lieb gewonnen. Und Hans ging es ebenso,
obschon er ihren Liebreiz nicht sehen konnte.
Grete war überaus schön.

Eines Tages nun saß Hans vor dem Haus auf der Bank und seufzte:
"Ach könnte ich doch nur mal einen kurzen Moment meine liebe
Grete ansehen!"
"Dummkopf!", krächzte es da vom Dach herab.
"Wer spricht zu mir?"
"Ich natürlich. Der Rabe Corvus."
"Warum bin ich ein Dummkopf, wenn ich mir für kurze Zeit
gesunde Augen wünsche?"
"Weil du mit wenig Mühe für immer sehen könntest."
"Das wäre schön. Und wie stell ich das an?"
"Schwing Dich auf die Füße und geh nordwärts zur Hexe Morgus
Nachtgewand. Die hat noch ganz andere Dinge fertiggebracht,
als so ein paar dumme Augen zu reparieren."
"Das ist wahr und eine gute Idee!"
"Wird sich rausstellen, ob es eine so gute Idee ist."
Hans schüttelte den Zweifel ab und sprang sogleich auf,
bedankte sich voll Überschwang bei dem Vogel.
"Ich lauf sofort los."
"Nicht so hastig. Die Sache will überlegt sein. Morgus macht das
nicht umsonst."
"Ich geb alles hin, was ich hab, wenn ich dafür endlich
sehen kann."
"Wie du willst. Aber beklag Dich dann nicht."
Corvus flog davon und Hans lief zu seiner Mutter. Erzählte
auch Grete von dem Vorhaben und konnte es nicht erwarten,
bis am Mittag der Vater nach Hause kam. Sie alle hatten
große Bedenken. Aber die konnten sie Hans nicht vermitteln,
der mit Feuereifer seine Reise vorbereitete und sich schon
mal einen soliden Stecken schnitt.

"Bist du nicht zufrieden, meine glatte Haut zu spüren, mein
weiches Haar und den Samt meiner Lippen, wenn wir uns küssen?"
Grete weinte, weil sie ein großes Unglück voraus ahnte.

"Ich werde dich noch tausendmal mehr lieben, wenn ich dich
endlich sehen kann", versicherte er ihr.
Darauf drückte Hans ein letztes Mal sein Mädel fest an sich.
"Ich komme mit", entschied sich Grete und wandte sich, um
Vorbereitungen für die Reise zu treffen.
"Geht nicht." Hans hielt sie am Arm fest.
"Warum nicht?"
"Ein altes Gesetz der Hexen und Zauberer. Man darf denen nur
alleine unter die Augen treten."
Grete wußte das. Sie hatte selbst genug magisches Wissen von
ihrer Großmutter geerbt. Wollte aber dreist dem Verbot zuwider
handeln.
"Bitte, liebes Mädel", bat Hans, "bleib hier und bring uns nicht
in Gefahr!"
Traurig ging sie davon und Hans tastete sich auf den Weg
nach Norden.
"He! Paß auf, wo du hintrittst!" Die Stimme kam von unten.
Hans hielt an und lauschte.
"Hier bin ich, Schwachkopf!"
"Wo hier?"
"Vor deinen Füßen. Noch einen Schritt und du hättest mein
Häuschen zertreten."
"Also bist du eine Schnecke."
"Was denn sonst, Blödian."
"Nicht so unfreundlich. Schließlich bin ich blind und wußte
nicht, daß du dich auf meinem Pfad befindest."
Jetzt tat der Schnecke ihre Grobheit leid.
"Verzeihung, das hatte ich nicht gesehen. du kamst so
dahergebraust, als hättest du gute Augen."
"Ich hab es auch furchtbar eilig."
"So? Wohin des Wegs, Kamerad?"
"Nach Norden zur Morgus. Die soll mich von meiner Blindheit
heilen."
"Tststs - hast du dir überlegt, worauf du Dich da einläßt?"
"Klar, hab ich. Ich will um alles in der Welt sehen können."
"Wir möchten so manches, was uns dann, wenn wir es haben, nur
schadet."
"Dummes Geschwätz! Ein klarer Blick hat noch niemandem Übles
gebracht."
"Da wär ich mir nicht so sicher. Wer hat dir denn den Floh ins
Ohr gesetzt?"
"Rabe Corvus."
"Ach der. Dachte es mir. Morgus dunkler Bote. Dieses
schwarze Federvieh ist an so manchem Elend schuld." Seufzen."Wenn ich es könnte, würde ich dir abraten. Aber ich sehe,
daß du schon total verblendet bist."
Damit kroch die Schnecke aus dem Weg und gab Hans den Pfad frei.
Nach einer weiteren, recht langen und mühseligen Wegstrecke
flog mit einem Mal ein Vogel über Hans' Haupt dahin, pfiff
ein lustiges Lied und zog immer engere Kreise. Der Junge
blieb stehen und fragte:
"Munterer Sänger, wer bist du?"
"Der Martinsvogel."
"Aha? Ich bin am Martinstag geboren."
"Das weiß ich. Deshalb hab ich auf dich aufzupassen."
"Unsinn! Auf mich braucht niemand achtzugeben. Ich bin groß
und stark und werde mit jedem Tag kräftiger."
In der Tat war Hans seit seinem Aufbruch mächtig gewachsen
und hatte breite Schultern bekommen. Auf den am Weg
liegenden Gehöften fand er überall bereitwillig Unterschlupf
und man fütterte ihn tüchtig heraus. Allerdings verschwieg
er sorglich, wohin seine Reise ging. Man hätte ihn dann wohl
weniger freundlich aufgenommen.
"Ich mach mir ernsthaft Sorgen um dich", flötete der Vogel.
"Das brauchst du nicht. Ich weiß, was ich tue."
"Davon bin ich nicht überzeugt. Kennst du die Macht der Morgus?"
"Pah - ein Weib!"
"Aber was für eins! Sie hat alle Tricks der schwarzen Magie
drauf, die man sich vorstellen kann."
"Wenn schon. Mich macht sie so rasch nicht kirre."
"Hans - du überschätzt dich gewaltig. Ein Wink von ihrem kleinen
Finger verwandelt dich in ein bibberndes Häufchen Elend."
"Abwarten. Ich laß mich durch solch ein Gerede nicht
einschüchtern."
"Wie du willst. Ich werde dir folgen und dich nicht aus dem
Auge lassen."
"Ist zwar nicht nötig. Aber wenn du es unbedingt möchtest,
dann mag ich dich nicht hindern."

Hans zog mehr als zwei Jahre nach Norden. Es wurde kalt und
immer kälter. Bald bedeckte Schnee und Eis seinen Weg. Aber
das focht ihn nicht an. Es wärmte ihn der Gedanke, sich
bald an der strahlenden Schönheit seiner Grete erfreuen zu
können.
Inzwischen war er ein stattlicher Mann von achtzehn Jahren,
als er im Land der Hexe Morgus ankam. Die Schreckliche
wohnte in einem Eispalast voller lebloser Menschen und
Tiere; denn alles, was ihr ungebeten vor Augen kam, mußte zu
Kristall erstarren.
"Sieh an! du willst also zu mir", empfing ihn Morgus mit
falschem Lächeln. Sie war über die Einzelheiten durch ihren
Raben gut unterrichtet, ließ sich aber nichts anmerken. Hans
schüttete vor ihr sein Herz aus. Morgus stellte sich so, als sei
sie von seinem Schicksal ergriffen.
"Das ist aber schlimm! Was machen wir denn da? Hm, ich werde
mal darüber nachdenken." Ließ ihn stehen und ging, eine
ausgemachte Teufelei vorbereiten.
Nach einer guten Stunde kam sie strahlend, aber voller
Zynismus zurück: "Ich kann dir helfen!"
"Ja?", freute sich der Ahnungslose.
"Aber es kostet ein wenig."
Hans rutschte das Herz in die Hose: "Geld hab ich leider keines."
"Wer redet hier von Mammon.Was ich von dir verlange ist nur
ein ganz klein wenig von deinem Körper."
Die Miene des Jungen Mannes hellte sich sichtlich auf:
"Nimm, was du brauchen kannst. Ich geb alles hin, wenn ich
dafür den klaren Blick bekomme."
"Das wirst du", erwiderte die Hexe hinterhältig.
"Was verlangst du denn?"
"Nicht viel. Nur das vordere Glied deines linken kleinen
Fingers."
"Das kannst du gerne haben. Zwei gesunde Augen sind mir mehr
wert."
Nun war das Zauberweib am Ziel. Hans wußte nicht, welche
Macht gerade im ersten Stück eines jeden kleinen Fingers
verborgen ist. Und zudem hat der linke die meisten Kräfte.
Arglos reichte er der Hexe die Hand und sie trennte mit
einer Rabenfeder das Glied ohne Blutvergießen ab. Durch
seinen Leib lief ein Ruck, als spüre er ein starkes
Erdbeben. Danach war ihm merkwürdig leicht im Kopf.

"Mach deine Augen auf", befahl Morgus. Berührte mit der
gleichen Feder sacht die Ränder seiner Lider.
"Was siehst du?"
"Ich sehe Nacht und viele helle Punkte darin."
"Gut. Es ist gelungen. Die hellen Punkte sind die Sterne. Nun
aber schau mich an."
"Du bist blendend schön, oh Zauberin."
"Schön?", lachte die mokant, "da solltest du erst mal meine
Tochter Lilith sehen, die ganz im Süden wohnt."
"Ja, das möchte ich gern", rief Hans begeistert, der von
einem Augenblick zum andern seine Grete vergessen hatte.
Dafür konnte er nicht genug die augen in der für ihn neuen Welt
herumwandern lassen.
"Ich sende dich zu ihr. Du wirst ihr willkommen sein. Solch einen
prachtvollen und tüchtigen Mann kann sie immer gebrauchen."
"Ja,", jubelte Hans, "ich will nach Süden und Lilith
besuchen. Denn nun habe ich gute Augen und mag mir endlich
alles ansehen, was schön und lieblich ist."
Morgus schnippte mit den Fingern und der Rabe kam auf ihre
Schulter geflogen.
"Mach dich auf, Corvus, und melde meiner Tochter, daß ich ihr
einen starken Burschen sende."
"Schon unterwegs", krächzte Corvus und warf einen
bedauernden Blick auf Hans. Ihm tat bereits leid, was er
durch seinen Rat angerichtet hatte.
Hans zog ebenfalls los.
Seelenlose Augen können zwar sehen, aber sie geben alles
verzerrt wieder, was sie erblicken. Und das ist verderblich
für den, der durch sie die Welt erfährt. Es gibt nichts,
woran er sich erwärmen, erfreuen kann.
Morgus Zauberbann hatte das Opfer fest im Griff. Wie auf
einer Flöte blies die Hexe ihren Willen durch jenes kurze
Fingerglied, das sie so leicht erbeutet hatte.

Hans kam auf dem Weg nach Süden durch gleiche Dörfer und
Gemarkungen wie auf dem Hinweg. Diejenigen, welche ihm zuvor
mit Speise, Trank und guten Worten die Reise ermöglicht
hatten, empfingen nun von ihm lauter Grobheiten und
Gewalttat. Er nahm sich, was er brauchte und prügelte sich
seinen Weg frei.
Ihm ging bald der Ruf voraus: "Versteckt euch. Da kommt
Übelauge!" Denn Hans hatte einen eiskalten und gemeinen
Blick, bei dem einem das Blut in den Adern gefror. Man warf
ihm freiwillig alles vor die Füße, was er fluchend forderte
und nahm schleunigst Reißaus.

"Hans, was hat man dir angetan?", weinte über ihm sein
Martinsvogel.
"Mach dich weg, du lausiges Federvieh!", rief der und
schleuderte einen Stein nach ihm, der den guten Vogel nur um
Haaresbreite verfehlte.
"Ich werde dir dennoch folgen, du armer Mensch."
"Laß dich ja nicht mehr sehen!"
Auch die Schnecke sah Hans daherstürmen.
"Hast du nun deinen klaren Blick, dummer Hans?!"
"Aus dem Weg, widerlicher Schleimer, sonst zerquetsch ich
dich."
"Wahrhaft freundliche Menschen entläßt die Morgus", brummte sie
und verzog sich eilig in ihr Haus.
Dann aber kam ihm Grete entgegen gelaufen:
"Liebster! Bist du wieder zurück!"
Sie hatte zwar von der schlimmen Verwandlung ihres Hans gehört,
mochte das aber nicht glauben. Mit ausgebreiteten Armen empfing
sie ihn.
"Hau ab, gemeine Dirne!"
"Ich bin es, deine Grete!"
"Fort sag ich. Kenne dich liederliches Weib nicht. Gib die
Straße frei, damit ich bald zu meiner Lilith komme."
"Du kennst deine Grete nicht mehr?", weinte sie und fiel ihm
vor die Füße. Er aber trat nach ihr und stürmte,
Gemeinheiten rufend, vorüber.

Lassen wir den heillosen Menschen nach Süden rasen. Er wird
noch eine gute Weile unterwegs sein. Schauen wir lieber, was
Grete unternimmt, ihren Liebsten zu retten. Denn das will
sie mit aller Kraft ihres Herzens. .
Erst einmal war sie, wie wir uns denken können,
totunglücklich, ihren Freund derart verändert zu finden. Dann
aber wischte sie die Tränen ab und besuchte das Grab ihrer
Großmutter. Unter dem schattigen Birkenbaum hatte sie oft
gesessen und in Zwiesprache mit der Ahnfrau die großen und
kleinen Schicksalsschläge verarbeitet.
Nach einer Weile des Stillsitzens rauschte es wieder in der Krone
des Baums.
"Meine liebe Grete. Wie ich sehe, bedrückt dich ein großer
Kummer."
"Großmutter hilf mir. Gib Rat, was ich tun soll."
"Besinne dich auf das, was du gelernt hast. Du bist alt genug,
die Kräfte der weißen Magie in dir zu wecken."
"Morgus ist viel, viel stärker, als ich je sein kann."

"Du hast ein reines Herz - und was noch wichtiger ist - eine
große Liebe. Sie allein sollte ihre dunklen Kräfte
besiegen."
Grete schluckte tapfer die Tränen hinunter und gewann
Zuversicht.

"Martinsvogel", rief sie dann. Und der Weggefährte ihres
Hans kehrte zu ihr zurück.
"Bleib du hier. Ich werde in deiner Gestalt und an deiner
Stelle nach Süden fliegen."

Hans erreichte nach gut einem Jahr sein Ziel. Man kann sich
die gewaltigen Schritte vorstellen, die er bei seinem
Dahinrasen gemacht hatte. Auch bemerkte er nicht, daß, je
weiter er nach Süden kam, die Welt immer lauter und
unmenschlicher wurde. Keine Bäume, Wiesen und lauschigen
Bäche, an denen man sich erholen konnte. Überall dröhnten
Maschinen, ratterten Transportwagen vorüber und stampften
Bohrmeißel die Erde auf. Und wenn nachts? der Arbeitslärm
verstummte, hämmerten einem wüste Musikrhythmen die Ohren
voll. Dann tanzte Lilith mit ihren Sklaven zum Schein des
nie erlöschenden Hexenfeuers.

So also empfing ihn das Reich der Morgus-Tochter.

"Kommst du endlich?", wurde er auch gleich von Lilith
angeschnauzt, die sich aus gutem Grund stets in einer
Nebelwolke verbarg. "Hast dir ja arg viel Zeit gelassen."
"Im Gegenteil", wehrte sich Hans. "Ich bin so rasch wie möglich
hierher geeilt."
"Widersprich nicht, Sklave!" Dabei rührte sie ihn tückisch
mit einem Hyänenknochen an. Die Glieder des jungen Mannes
gehorschten ihm nicht mehr, sondern folgten von nun an nur
noch Liliths Willen.
"Los, los! An die Arbeit! Die Zeit des Faulenzens ist vorüber!"

Für längere Zeit verlieren wir Hans aus den Augen. Er
verrichtete niedrigste Sklavendienste bei seiner neuen
Herrin, die er nicht einmal Muße hatte, in Augenschein zu
nehmen. Hätte er dazu Zeit und Gelegenheit gehabt, wäre ihm
schon aufgefallen, wie sehr er betrogen wurde. Lilith war
Von kleiner Gestalt und mit ihrer schuppigen Haut glich sie eher
einem zweibeinigen Reptil. Sie war die Frucht einer flüchtigen
Liebschaft zwischen Morgus und dem im Südmeer hausenden
Wasserkobold Asperagus.

Lange brauchte Grete, die schreckliche Situation
auszukundschaften, in der sich ihr Hans befand. Sie flog
umher, immer unter der Gefahr, von der wachsamen Lilith
entlarvt zu werden.

"Los!", kreischte das Unweib. "Such Würmer und kau sie mir zu
Brei. Ich brauch Kraft für den Hexensabatt!" Schlug immerfort auf
hans ein, dessen bloßer Rücken schon ganz zerfurcht war.
Das Niedrigste und Unwürdigste war dieser Sadistin gerade recht,
die sich am Elend mästete wie andere an feiner Speise.

Aber es gab Stunden, an welchen Lilith nicht so sehr auf
alles achten konte. Die nutzte Grete, einen Rettungsplan
auszuhecken.

So mußte ihr Freund einmal täglich im Meer die verkotete
und verdreckte Leibwäsche seiner Herrin waschen. Das tat er
mit stoischem Gleichmut. Ihn band nach wie vor die
Zauberlähmung.
"Hans! Hörst du mich?"
Grete flog in Vogelgestalt dicht über ihm hin. Aber er
reagierte nicht.
"Da muß ich nachhelfen", dachte sie. Eilte zu einem Tümpel in der
Nähe, der schon viele ihrer Tränen aufgenommen hatte und tauchte
die Flügelhand hinein. Tränen, das weiß man, haben einen
ganz besonders starken Zauber. Mit der nassen Schwinge strich sie
Hans über's Haupt.
"Bist du es, Martinsvogel?" Endlich sah er hoch. Und der
tieftraurige Blick, schnitt Grete mächtig ins Herz.
"Ich will dir helfen", zwitscherte sie nah an seinem Ohr.
"Mir kann niemand helfen. Ich wünschte, ich wäre tot."
"Du sollst, du wirst leben! Es gibt Menschen, die dringend
wünschen, daß du zurückkehrst."
"Ich hab alles falsch gemacht. Darf gar nicht daran denken, wen
ich mit meiner Grobheit verletzt hab."
"Da warst du verzaubert. Und das bist du auch jetzt noch.
Willst du, daß ich dir helfe?"
"Ist das denn möglich? Kann ich aus dieser Gefangenschaft
loskommen?"
"Du kannst. Aber wir müssen uns beeilen!"
"Hilf mir! Ich will alles tun."
Sie brachte ihn zum Tümpel, der ihre Tränen enthielt.
"Tauch dort hinein."
"Ich darf das nicht"
"Mach rasch, bevor das Hexenweib was merkt."
"Und glaubst du, das hilft?"
"Schnell. Der Nebel wird dichter. Ein Zeichen, daß Lilith wach
wird."
Endlich tauchte Hans den Kopf in das Naß. Die magischen
Fesseln fielen von ihm ab. Er reckte die Glieder und
schüttelte seine Fäuste:
"Nun werde ich dieses Drecksstück von Lilith zerquetschen!"
"Mach keinen Unsinn", warnte Grete und umflatterte nervös sein
Gesicht. "Dafür ist keine Zeit. Lauf so rasch du kannst nach
Norden."
Unwillig folgte er. Und das war klug. Denn kaum hatten sie
den lärmenden Einflußbereich der Hexentochter verlassen,
merkte die den Verlust und sandte etliche Bannflüche hinter
Hans her, die aber wirkungslos an der Grenze abprallten.

Die Welt wurde still. Ab und an schon ein zaghafter
Vogellaut, wo wieder das Grün der Erde entsproß. Das tat
Augen und Ohren wohl.
"Ich sehe alles so häßlich verzerrt", klagte Hans. "Die Dinge
erscheinen mir wenig freundlich und reizvoll."
"Das liegt daran, daß dich die Morgus sehend gemacht hat. Du bist
noch in ihrem Bann."
"Wie komme ich da je wieder raus?"
"Du bist nicht allein. Ich helfe dir."
"Du und mir helfen, kleiner schwacher Martinsvogel!"
"Habe ich dich nicht aus Liliths Macht befreit."
"Schon. Aber Morgus ist unendlich viel stärker."
"Abwarten!"

Sie eilten nach Norden. Wieder sahen die Leute den wilden Hans
daherstürmen und warfen ihm ängstlich Nahrungsmittel vor die
Füße.
"Sorgt euch nicht, liebe Leute!", pfiff Grete in Gestalt des
Vogels den Fliehenden nach. "Hans ist nicht mehr wild und
wird bald wieder der sein, der er mal war."
Skeptisch blieben sie stehen und betrachteten scheu den
riesenhaften Kerl, der langbeinig dahinschritt.
"Dort ist unsere Hütte", rief Hans begeistert. "Vater und Mutter
schauen aus dem Fenster. Aber ich sehe Grete nicht."
"Sie trauert um dich und will dir erst begegnen, wenn du
wieder der alte sein wirst."
"Das will ich!", schrie er voll Schmerz in der Brust und stürmte
um so heftiger vorwärts.
"Der Tollkopf tritt mich eines Tages noch tot", maulte die
Schnecke. "Hast du immer noch nicht genug von dem Hexenweib und
willst wieder zu ihr?"
"Muß doch mein altes Ich zurückbekommen."
"Dummer Mensch du! Weshalb hast du es auch abgegeben"
Sie kroch stöhnend aus dem Weg und winkte ihm mit den Hörnchen
einen Segen hinterdrein. Eigentlich war sie ein gutmütiges, wenn
auch mürrisches Tier.
Auf dem letzten Stück gesellte sich Corvus zu ihnen.
"Ich bin an allem schuld", krächzte er kleinlaut. "Hätt ich
dir nicht zu der Fahrt geraten, wärst du heute ein
glücklicher Mensch."
"Er wird es wieder sein", zwitscherte der vermeintliche
Martinsvogel zuversichtlich.
"Meinst du wirklich", zweifelte der Rabe.
"Wir werden ja sehen."

Damit ging es weiter. Endlich waren sie angelangt. Kälte
umgab sie. Unter klirrendem Frost war die Welt erstarrt.
"Was willst du, Sklave meiner Tochter? Marsch! Kehr um und tu
deine Pflicht!" Morgus schnaubte vor Wut und hob schon das
Fingerknöchlein, um hineinzublasen.
Heimlich winkte Corvus dem vermeintlichen Martinsvogel zu.
Sobald nun der Rabe die Hexe umflatterte und nach ihrer Hand
hackte, worauf Morgus das Knöchlein fallen ließ und erbost
nach Corvus schlug, flog Grete auf und ließ eine Träne nach
der anderen auf die Zauberin herabtropfen.
"Äh, widerlich!", kreischte die. "Tränen voll ätzender Liebe!"
Unter Schmerzen sprang sie umher und haschte bald nach dem Raben,
bald nach Grete, die fortfuhr, Morgus mit dem Naß ihrer Augen zu
treffen.
"Aufhören! Aufhören! Ich verbrenne!"
Aber es hörte nicht auf. Schon knisterte es im ewigen Eis
ringsum. Auch wurde es spürbar wärmer. Die Zauberin lag am
Boden und wälzte sich wimmernd in der inzwischen reichlich
herabströmenden Tränenflut. Die einst so große und mächtige
Hexe schrumpfte und wurde von Augenblick zu Augenblick
kleiner und schwächer. Auch die Umgebung verwandelte sich.
Tauwetter herrschte und bald sproß Frühlingsgrün. Vögel und
andere Tiere lösten sich aus ihrer Erstarrung. Der Fuchs
strich vorüber und ein geweihtragender Hirsch blieb stehen
und sah freudig zu, wie die Macht der Morgus immer weiter
dahinschwand. Zuletzt aber regten sich die verwandelten
Menschen aus ihrer Verzauberung. Dankten für ihr Erlöstsein
und zogen lachend und singend heimwärts.

"Gleich ist es geschafft!", seufzte Grete. Ihre großen Augen
entließen Träne um Träne . Von der Zauberin war nur noch ein
Klumpen, dann endlich ein kleines Aschehäufchen übrig. Mehr Tiere
kamen und gruben diesen Rest ihrer Unterdrückung tief in den
Boden.

"Gott sei es gedankt! Die Hexe ist fort", murmelte Hans.
"Aber ich sehe immer noch alles verzerrt." Corvus setzte
sich auf seine Schulter: "Tja, mein Lieber. Du hast nun die
Wahl. Entweder wirst du das verzerrte Sehen behalten oder
blind sein wie damals." "Lieber blind sein", stöhnte Hans.
"Das Sehen ist mir inzwischen derart verhaßt wie diese
widerliche Hexe!" Wischte sich über die augen, um die
Zerrbilder loszuwerden, die aber nicht zu entfernen
waren.
"Ein weiser Entschluß! Mach die Augen auf. Ich werde deine Lider
mit meiner Schwinge berühren."
So wurde Hans wieder, was er einst war. Sein Blick trübte
sich ein, erlosch ganz. Dann spürte er, wie etwas sanft
seine Hand berührte.
"Halt still. Ich will dir dein Fingerglied wieder ansetzen."
Grete umflatterte ihn einige Male. Dann war auch das geschafft.
"Und nun nach Hause!", rief der junge Mann froh. "Ich will
endlich wieder mein Mädel in die Arme schließen können."
"Das sollst du auch", krächzten und zwitscherten die beiden
treuen Vögel gleichzeitig.

Der Weg kam ihnen kürzer vor. Wärmende Sonne, freundliche
Tiere und Menschen begleiteten sie. Auch kam nachricht aus
dem Süden, daß dort die Macht der Lilith gebrochen war. Die
Unholdin sei in die Wüste entflohen, hieß es. Alle Sklaven
waren frei und zerstörten in ihrer Wut die Lärmmaschinen,
deren Trümmer nun langsam vor sich hin rosteten. Jubel war
rings im Land. Und überall, wo sie hinkamen, wurde ein
Freudenfest gefeiert.
"Ich seh schon dein Haus", krächzte Corvus.
"Dann werd ich vorausfliegen, um deine Eltern
vorzubereiten", zwitscherte Grete. Aber sie wollte ihn in
ihrer wahren Gestalt empfangen und verbarg sich im Haus
ihrer Eltern.

"Da bist du ja wieder", räusperte sich die Schnecke zufrieden.
"Alles ist, wie es war. Weshalb dann die lange Reise?"
"Das verstehst du nicht", antwortete der Rabe rasch.
"Aus einem Schneckenhaus heraus? kann man die Welt nun mal
nur teilweise begreifen."
"Ist mir auch lieber so", knurrte sie und kroch zur Seite.
Kurz darauf umschlangen den jungen Mann zwei Mädchenarme.
"Grete, meine Grete!"
"Woher weißt du, daß ich deine Grete bin? Du siehst mich doch
nicht."
"Meine Seele sieht dich. Und das ist ein so klares Bild, daß ich
das andere nicht brauche."
Sie gingen zu den Eltern. Freude und Erleichterung waren groß.
Auch hier wurde ein Fest gefeiert. Und die Hochzeit ließ nicht
lange auf sich warten.
Was aus Hans wurde? Er war bald ein geachteter Mann, der in
vielen Dingen um Rat befragt wurde. Auch verstand er es,
packend und unterhaltsam zu erzählen.
"Schreib das doch auf", rieten die Leute. Und Grete nahm
Papier und Feder zur Hand, um die Geschichten ihres Mannes
festzuhalten. Es wurde ein großes und schönes Buch.

ENDE

 



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