Hanno Erdwein
Signale im Leuchtfeuer
Nebeldicker Zigarettenrauch färbt die Gesichter der fünf
Männer grau ein. Die Thermoskanne zwischen ihnen auf dem nackten
Holztisch hat außer einem Bodensatz brauner Flüssigkeit
nichts zu bieten, was über den Rest der Nacht hinweghilft.
Ein diffuses Gelb der altersschwachen Neonröhre an der Decke
läßt die spartanische Einrichtung mehr erahnen als klar
hervortreten. Niemand investiert einen müden Dollar in eine
so hoffnungslose Sache wie die Erforschung des Weltraums. Und auch
dieser letzte Außenposten inmitten des asiatischen Niemandslands
steht kurz vor dem Aufgeben. Noch tasten routinemäßig
die drei Teleskopspiegel den Himmel ab, sind die Empfangsanlagen
auf der Frequenz des ESA-Satelliten standby. Nichts wird empfangen,
nichts seit fünfeinhalb Jahren, was die Öffentlichkeit
aus ihrer auf ausschließlichen Konsum ausgerichteten Gleichgültigkeit
aufrütteln könnte. Und für Nichts gibt es keine Fördermittel.
Seufzend erhebt sich einer der fünf, reckt seine langen Glieder,
streicht sich über das kurzgeschorene Haar und tritt an das
kreisrunde Fenster. Der Sand der Wüste schimmert im Licht eines
fast vollen Mondes. Schemenhaft ragen da und dort die langen Finger
der Kakteen empor. Ein Schatten huscht vorüber, ein Schakal
auf Beutefang oder eines dieser scheuen Wüstenratten? Das alles
wird bald Vergangenheit sein, wenn es hei t: Die Koffer packen.
Und auf dem Rollfeld ein letztes Shake-Hands, bevor der eine nach
Frankreich, ein zweiter und dritter nach England und Deutschland,
der Vierte nach Rußland und er selbst in die USA abfliegen
wird. Er hebt den Blick zum gestirnten Himmel. Trotz des Mondlichts
treten die vier Ecksterne des Pegasus deutlich hervor und darüber
die schmale Kette der Andromeda. Ein Traum geht zuende, eine Hoffnung,
mehr über das kosmische Geschehen in Erfahrung zu bringen,
eine Antwort auf die uralte Frage zu finden, ob wir allein im Weltall
sind. Bei den abermilliarden Sternen, Kugelsternhaufen und Galaxien
wäre es Wahnsinn anzunehmen, da dies alles nur von einem kleinen
unbedeutenden Planeten in einem noch unbedeutenderen Milchstraßenarm
aus bewußt wahrgenommen wird. Ein so aufwendiges Feuerwerk
nur für uns allein? Dies anzunehmen wäre Vermessenheit.
Und dieser Gedanke hat in immer schon bewegt, ihn die Laufbahn eines
Astronomen einschlagen lassen, ihn hier in die asiatische Wüste
geführt, wo er ganz seiner Arbeit hingegeben das Leben eines
asketischen Mönchs führt. Vorbei. In seiner Tasche steckt
das Fax, welches ihn, den Leiter der Station auffordert, die Auflösung
einzuleiten.
Er seufzt abermals und wischt sich mit dem Handrücken
über die Stirn. Sirenengeheul läßt ihn in der Bewegung
innehalten und sich ruckartig umwenden. Schon sieht er, wie Daniel,
der Deutsche aufspringt und zur Tür sprintet. Alle Müdigkeit
ist von den Gesichtern gewichen. Die Augenpaare blicken ihn erwartungsvoll
glänzend an. Zigaretten werden ausgedrückt und die Haltung
signalisiert Bereitschaft, auf Anordnung sofort zu reagieren. Jeder
einzelne weiß , was der Alarm bedeutet, ist durch stundenlanges
Training auf diesen Fall vorbereitet. Es bedarf keiner überflüssigen
Fragen. Seine Hand greift in die Jackentasche, zieht einen Streifen
Kaugummi heraus, den er mit nervösen Bewegungen von einer Backe
in die andere wandern lä t. Die Tür springt auf. Daniel
schwenkt triumphierend ein mit Daten dicht bedrucktes Blatt, das
er zwischen die Kaffeetassen und Aschenbecher auf den Tisch gleiten
läßt. Fünf Köpfe beugen sich darüber,
atemlos die Werte prüfend. "Das ist es", knurrt Yuri, der Russe.
"Wir haben es geschafft, Old Fellow!" Die derbe Faust Toms, des
grobschlächtigen Engländers drischt auf die Schulter des
zarter gebauten Antoine aus Frankreich los. Der zuckt nicht einmal
und schüttelt immerfort seinen schwarzen Lockenkopf. Was ist
Ihre Meinung, Sir", wendet sich Daniel an den Leiter Simon, der
mit so vorsichtigen Bewegungen an den Tisch herantritt, als gelte
es, ein vermintes Feld zu durchqueren. Nach einer Weile wortloser
Kaubewegungen brummt er: "Sieht so aus, als hätten wir einen
erwischt." Alle kennen die karge Art Ted Simons, nicht viel Wortgeräusch
zu machen, besonders, wenn es um wesentliche Dinge geht. So hatte
er beispielsweise die Tatsache, da die Station aufgegeben werden
soll mit dem Satz kommentiert: "Das war's dann wohl, Jungs." Nun
prüft er aus schmalen Augenschlitzen die Zahlenreihen, streicht
nachdenklich über sein Bürstenhaar und blickt Daniel an:
"woher?" "Aus Andromeda." "Präzise?" Daniel räuspert sich
verlegen und beeilt sich: "Der Gamma Reburst kommt aus der gro en
Andromeda-Galaxie." "Los Jungs, an die Spiegelteleskope!" Seine
Hand wischt über Tom und Antoine. "Yuri, sie belauschen die
Radiowellen und Daniel liegt im Gammabereich weiter auf der Lauer."
Zu sich selbst meint er: "Möchte wetten, daß da noch
mehr kommt!"
Die Einteilung ist überflüssig. Seit
Jahren liegt sie fest. Nach wenigen Stunden häufen sich die
Daten auf Simons Schreibtisch, der sie dem Großrechner zu
fressen gibt. Dieser Energieausbruch aus dem Andromedanebel ist
spektakulär. Und kaum, da etwas davon an die Öffentlichkeit
gedrungen ist, stehen die Telefone der Station nicht mehr still.
Die Kollegen der rasch wieder ins Leben gerufenen übrigen Stationen
fordern Daten an. Presse, Funk und Fernsehen erwarten Statements,
Regierungsbeamte zeigen plötzlich erwachtes Interesse für
diesen bereits totgesagten Zweig der Forschung. Dann noch die Flut
besorgter Bürger, die eine Art Weltuntergangspanik zeigen und
beruhigt werden müssen. Aus ist es mit der ruhigen Forschungsarbeit.
Er hat nur noch zwischen Faxgerät, Fernschreiber und Telefon
hin und her zu springen.
"Ted, ich hab was merkwürdiges entdeckt."
Yuri streckt den Kopf zur Tür herein und zeigt auf eine Cassette
in seiner Hand. "Komm rein und drück mal auf den Knopf da."
Die Hand des Leiters zeigt auf die Zentralsperre an der Wand. Mit
einem Schlag verstummt das Dauergebimmel, hören die Datengeräte
auf zu rattern. Simon stöhnt erleichtert auf, schiebt sich
einen frischen Kaugummi zwischen die Zähne und fordert Yuri
auf: "Schie los, Old Fellow!" Der steckt die Cassette in einen Recorder,
startet und blickt Simon gro äugig an. "Was ist das?", fragt
der, scheinbar wenig beeindruckt. "Weiß nicht. Hört sich
an, als wären es modulierte Signale." "Woher?" "Andromedanebel."
"Kein Zufallsprodukt?" "Dafür sind die Sequenzen zu präzise."
"La mal hier. Wollen sehen, ob unser Schlaumeier damit was anfangen
kann." Yuri grinst zweiflerisch und schlüpft hinaus.
Bilder und Radiogeknatter des großen Ausbruchs
im Andromedanebel, der Nachbargalaxie, machen die Runde um den Erdball.
Die aktuellen Tagesmeldungen jeder Sprache berichten ausführlich
darüber. Wissenschaftler werden befragt, geben vage bis ausweichende
Stellungnahmen ab. Man wei noch zu wenig von diesen kosmischen Ereignissen.
So wird die Erdbevölkerung mit Mutmaßungen gefüttert.
Man erklärt das Spektakel mit dem Kollaps eines Riesensterns,
der einen Teil seiner Masse in den Raum schleudert, um dann zu einem
schwarzen Loch zusammenzuschrumpfen. Ob das auch in unserer eigenen
Galaxis passieren könne, will man besorgt wissen. Das könne
überall geschehen, ist die Antwort. Aber beruhigend fügt
man hinzu, es sei allerdings sehr unwahrscheinlich. Ob dieser gigantische
Ausbruch, der ja gar nicht weit vor unserer Haustür geschehe,
nicht negative Folgen für die Erde habe. Auch hier beeilt man
sich, der aufkommenden Panik den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Das Licht eines Glühwürmchens sei weitaus gefährlicher
für unser Leben als dieser Ausbruch, der dazu noch vor Millionen
Jahren passiert sei. Und schon geht man zur Tagesordnung über,
zeigt Fußballergebnisse und Tennis-Match-Bälle.
"Was haltet ihr davon?" Jeder hält einen
Computer-Ausdruck in der Hand und Simon blickt die vier erwartungsvoll
an. "Sieht nach einem verschlüsselten Text aus. Wo hast du
das her?" "Yuris Cassette. Hab den Compy darüber schwitzen
lassen." Daniel kraust die Stirn: "Hat eine eindeutige Textstruktur,
wenn auch total chaotisch für unser Empfinden." "Könnte
nicht sagen, da es irgendeiner irdischen Sprache gleicht", brummt
tom, der polyglotte Schliemann unter den Fünfen. "Wie wäre
es mit einer Logik-Analyse? Ich meine, Häufigkeit sich wiederholender
Strukturen und so weiter", schlägt Antoine vor. Simon zieht
ein weiteres Blatt aus der Mappe: "Längst geschehen. Aber ...
ich weiß nicht ... hört selbst!" Er legt das Blatt vor
sich hin, streicht es unnötigerweise nochmals glatt, blickt
starr darauf, hebt den Kopf und prüft die Gesichter seiner
Kameraden, die ihn erwartungsvoll anstarren, bevor er räuspernd
beginnt: "Es ist ein Fragment. Der Anfang fehlt. Und es ist auch
nicht alles eindeutig verständlich. Doch bei einigem Nachdenken
versteht man, worum es geht. Der Text beginnt mitten in einem Satz
- ... morbide Kultur. Uralte Welt in... (Hier folgt eine astronomische
Angabe, die beim besten Willen nicht definiert werden kann.) ...
im 135. (Das folgende muß eine Datumsangabe sein, wobei wir
nicht wissen können, wie sich ein solcher Kalender zusammensetzt.)
Mein Name ist Oing Houngan (phonetische Wiedergabe) und ich will
über die jüngsten Ereignisse berichten. Mögen die
(nicht einzuordnender Begriff) uns gnädig sein. Es geht auf
das Ende zu. Ich wende mich an alle, die dies lesen können.
Es sind die letzten Lebenszeichen einer sterbenden Welt. In wenigen
Zeitspannen wird das Entsetzliche geschehen, wird diese Daseinsform,
diese wunderschöne Welt für immer ausgelöscht. Und
wir sind unser Unglück selber schuld. Wir haben durch unsere
Maßlosigkeit die Dinge heraufbeschworen, die in den Untergang
führen. Machtgier und Habsucht sind die Auslöser des bevorstehenden
Schreckens. Eine dumme Ignoranz der möglichen Katastrophe gegenüber
ließ die Hirne blockieren, die herzen verhärten. Noch
jetzt glaubt niemand an den Untergang, der sich jedem, der nicht
blind und taub ist, deutlich ankündigt. Ich weine und benetze
die Apparatur mit meinen Tränen. Ich weine über die Unabwendlichkeit,
mit der wir aus dem All verschwinden werden, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Ich weine und hoffe, da jemand dies empfangen wird und mit mir trauert.
Ich ... (Hier bricht Yuris Aufzeichnung ab.)" Simon lehnt sich zurück,
schiebt den unvermeidlichen Kaugummi aus der linken in die rechte
Backe und verschränkt die Arme vor der Brust. "Ist sichergestellt,
da der Rechner nicht irgendwas daherfaselt?", fragt Tom stirnrunzelnd.
"Hundertprozentig", nickt Simon. "Klingt mehr nach den Problemen
unserer eigenen Welt", meldet sich Antoine, "wie kommt die Maschine
eigentlich zu so einer klaren Interpretation?" "Vergleichende Semantik.
Frag mich aber nicht, wie das im einzelnen funktioniert. Bin kein
Informatik-Spezi." "Was mag dieser Schreiber mit der selbstverschuldeten
Katastrophe gemeint haben?", grübelt Daniel. "Vielleicht haben
sie mit der Kernfusion herumgespielt", schlägt Yuri vor. Simon
schüttelt energisch den Kopf: "Das löst kein Reburst aus."
Müssen denn beide Ereignisse zeitgleich erfolgt sein?", wirft
Tom ein. Daniel legt sein Blatt aus der Hand: "Mutmaßungen
führen zu nichts. Aus den wenigen Fakten läßt sich
nur wild spekulieren. Wir brauchen mehr, vor allem handfeste Angaben
und keine Literatur. Wie steht es, Yuri? Strahlt die Quelle noch?
Kommen weitere Cassetten?" "Hab noch sieben Stück. Gestern
Mittag gegen eins kam das letzte rüber." "Gut", ächzt
Simon, sammelt die Blätter ein, klappt die Mappe zu und brummt:
"Vertagen wir die Sache, bis der Rechner die weiteren Daten ausgespuckt
hat. Und ...", er blickt jeden einzelnen scharf an, "keinen Krümel
davon an die Öffentlichkeit!" Zustimmendes Nicken. Dann geht
jeder an seine Arbeit.
Und doch bleiben die spektakulären Geschehnisse
auf der weltabgeschiedenen Wüstenstation nicht verborgen. Zuerst
ist es ein privater Unterhaltungssender, der über mysteriöse
Informationen einer außerirdischen Zivilisation mutmaßt,
in Talkshows Politiker, Wissenschaftler und Geistliche nach ihrer
Meinung befragt. Das ist zwar recht unterhaltend, regt aber niemanden
sonderlich auf, weil es unter Kurioses abgetan wird. Sobald aber
auch ernstzunehmende Sendeanstalten mit wörtlichen Zitaten
aus dem Text aufwarten, heftige Diskussionen über die Seriosität
der Quelle entbrennen, kann sich Simon vor Anfragen nicht mehr retten.
"Irgend jemand hat gequatscht!", schnaubt er wütend
und stapft in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Yuri sitzt am Fenster,
eine kalte Zigarette im Mundwinkel. Im Allerheiligsten des Chefs
darf nicht geraucht werden. "Irgendwer hat denen da drau en was
über unsere Arbeiten erzählt und sogar Teile des Textes
zugespielt. Ich begreif es nicht!" Je mehr sich Simon aufregt, um
so stärker schlägt seine Wortkargheit ins Gegenteil um.
"Einer von uns Fünfen ..." Statt des Kaugummis zerbeißen
seine Zähne das Ende eines Bleistifts. Das Knirschen untermalt
den Grimm seiner Worte. Die Fäuste rumoren in den Hosentaschen
mit den wenigen Gegenständen. Ruckartig macht er vor Yuri Halt
und sieht ihn nachdenklich an: "Sag mal, du bist doch unter uns
der einzige Funkamateur?" Yuri nickt treuherzig. Doch der Bereich
um seine Nase wird um eine Spur blasser. Mit nervöser Bewegung
nimmt er den Glimmstengel von den Lippen und schiebt ihn sich hinters
Ohr. "Du hast den engsten Kontakt mit der Außenwelt. Mal ehrlich,
Old Fellow, hat deine Morsetaste nicht ein wenig zuviel geklappert?"
Yuri senkt den Blick auf die Fu spitzen. "Motherfucker!" Schnaubend
nimmt Simon sein hektisches Hin und Her wieder auf. In diesem einen
Wort entlud sich die ganze Wut. Rasch glättet sich seine Stirn.
Den angekauten Bleistift wirft er in die Schreibtischschale und
ersetzt ihn durch einen Kaugummi. Dann stößt er mit dem
Fuß einen Stuhl zurecht und nimmt rittlings vor Yuri Platz.
"Was mach ich nur mit dir, du Unglückswurm?" Der Russe hebt
versuchsweise den Blick und flüstert: "Ich wollte ja nichts
..." "Weiß ich", würgt der Chef seine Beichte ab, "ihr
Funkheinis seid nun mal ein verquatschter Haufen." Seine Kiefern
malmen den Gummi eine Weile zurecht, bis er den Satz fortsetzt.
"Mein Fehler. Hätte mich vorher drum kümmern sollen und
keinen Tastenklopfer ins Team nehmen." "Werd ich jetzt ...?" "Nichts
wirst du", unterbricht ihn Simon ein zweites Mal. "Ist vielleicht
ganz gut, da die Sache auf diese Weise publik wird." Er kratzt sich
nachdenklich am Hinterkopf. "Vielleicht ist das sogar ein ganz geschickter
Schachzug." Beim Aufspringen schlägt er Yuri auf die Schulter:
"Kopf hoch, Old Fellow! Hol die Jungs zur Generalbesprechung!"
Simons Andromeda-Mappe ist mächtig angewachsen.
Flüchtig blättert er darin, liest hier ein paar Sätze,
macht sich Notizen, blättert weiter, um erneut ein paar Zeilen
zu übernehmen. Nun hebt er den Kopf, stellt fest, da alle versammelt
sind und beginnt: ""Da die Öffentlichkeit inzwischen über
die Botschaft aus dem All Bescheid ..." "Verdammt noch mal", poltert
Tom los, "wer hat denn da nicht dicht gehalten?" "Tut hier nichts
zur Sache", wischt Simon die Frage vom Tisch. "Da also jetzt bekannt
ist, da wir Nachrichten aus dem Andromeda-Nebel erhalten haben,
sind wir gezwungen, den Inhalt bekannt zu geben." "Wir sollen den
kompletten Text ...?", wundert sich Antoine. Die Mundwinkel des
Chefs kräuseln sich unter einem ironischen Lächeln. "Über
das Wieviel und Was werden wir hier gemeinsam entscheiden." Ein
erleichtertes Aufatmen macht die Runde. Es ist wieder jener Aufenthaltsraum,
in dem die Besprechung stattfindet. Die Thermoskanne ist gut gefüllt.
Zigaretten werden angezündet. Vor der runden Scheibe zieht
ein abnehmender Mond langsam vorüber. "Wie sollen wir was entscheiden,
wenn wir noch nicht einmal den vollen Wortlaut kennen?", wundert
sich Daniel. "Den sollt ihr gleich erfahren." Seine Hand blättert
zu den ersten Seiten des Ordners zurück. "Immer sollen wir
uns mit Zuhören zufriedengeben. Warum bekommen wir nicht das
Original zu lesen?" Simons Hand hebt sich leicht von der Tischplatte
und schnalzt. "Denkt mal darüber nach!" "Ach ja, j'ai compris",
murmelt Antoine. Und Yuri senkt seine Nase tief in die Kaffeetasse.
In der folgenden halben Stunde, in der vor dem
Fenster die Mondsichel den Sternen des Pegasus weicht, trägt
Simon mit nüchterner, fast monotoner Stimme die dramatischen
Ereignisse jener räumlich und zeitlich fernen Welt vor. Die
Worte im Ohr wenden sich die Blicke aller fast schon zwanghaft dem
dunklen Rund zu, suchen oberhalb der vier Ecksterne des geflügelten
Pferdes den winzigen Nebelfleck, der die Andromeda-Galaxie darstellt,
vermeinen das Leuchtfeuer wahrzunehmen, aus dem das Signal über
die unendliche Zeitkluft zu ihnen herabkam. Keiner kann sich eines
leisen Schauders erwehren, während Simon den allmählichen
Untergang jenes hochtechnisierten und geistig hochstehenden Volks
vor ihren innerem Auge vorüberziehen läßt. Erfindungen
werden genannt, die ihr Vorstellungsvermögen übersteigen,
technische Projekte, die derart ins Gigantische gehen, da keine
irdischen Maßstäbe als Vergleich herhalten. Letzten Endes
ist von einer Zeitblase die Rede, mit der die interstellare Raumfahrt
realisiert werden sollte. An diesem Projekt entbrannte eine heftige
wissenschaftliche Kontroverse zwischen Befürwortern und Skeptikern.
Wo die Ersteren den dringenden wirtschaftlichen Aufschwung und eine
neue Basis für Grundlagenforschung sahen, malten die Gegner
das Vorhaben in schwärzesten Farben. Für sie bahnte sich
hierdurch eine kosmische Katastrophe an, in der alles Leben auf
stellarer, wenn nicht galaktischer Ebene zerstört werden müßte.
Zur Erzeugung einer leistungsfähigen Zeitblase dieses Ausmaß
es sei die Energie etlicher Sonnen notwendig. Und dafür wär
weder das nötige Wissen ausreichend noch die Technologie genügend
entwickelt. Allzu rasch könne das Experiment sich verselbstständigen
und eine Kettenreaktion ungeahnten Ausmaßes annehmen. Doch
die Kassandra-Rufe verhallten ungehört oder wurden verlacht.
Zuviele profitierten direkt oder indirekt an der Verwirklichung
dieses uralten Traums. Es vergingen mehrere Generationen, bevor
mit der eigentlichen energetischen Umsetzung begonnen werden konnte.
Bis dahin waren die beteiligten Planeten finanziell ausgeblutet.
Ganze Bevölkerungsschichten hungerten. Widerstandsgruppen und
Aufstände schlug man brutal nieder. Auf allen Welten erhoben
sich Propheten des nahen Untergangs. Konnte man sie nicht lächerlich
machen, wurden sie eingesperrt und hingerichtet. Dabei arbeitete
man fieberhaft an dem interstellaren Aggregat zur Erzeugung der
gigantischen Energie für die Zeitblase. Es war ein offenes
Geheimnis. jeder wußte es, doch niemand wagte laut darüber
zu sprechen, da mangels ausreichender Geldmittel gestümpert
und geschlampt wurde. Die Zeit des Countdown rückte heran,
von manchen ersehnt, von den meisten aber herbeigefürchtet.
Und dann geschah das Unausbleibliche. Vorzeitige Zündung. Der
Sternreaktor geriet au er Kontrolle, ri wie ein stellarer Staubsauger
alles an sich. Zunächst fraß er binnen kurzer Zeit die
nahen, zuletzt die entfernteren Sonnen mit allen lebentragenden
und toten Planeten, bevor er kollabierte und mit einem kosmischen
Feuerwerk zum schwarzen Loch wurde. Niemand entging dem Untergang,
selbst jene nicht, die sich in Raumschiffen zu retten versuchten.
Wurden sie nicht in den Strudel gerissen, ereilte sie die Schockwelle
der Explosion. Der Autor jenes denkwürdigen Funkspruchs konnte
die Entwicklung bis zuletzt verfolgen und in allen Einzelheiten
darstellen. Dann wurde auch seine Welt in den Strudel gezogen. Bis
zuletzt blieb er auf Sendung und ließ die fernen Beobachter
an der Katastrophe teilhaben, bis ihm förmlich die Sendetaste
unter der Hand verglühte.
"Ich sitze in einem besonders isolierten Schutzraum
mit Klimaeinrichtung. Die Atmosphärenhülle des Planeten
ist bereits weggerissen. Unser Sonnensystem stürzt immer rascher
auf das Zentrum der Vernichtung zu. Die Meßinstrumente zeigen
unvorstellbare Werte an Beschleunigung. Au er mir gibt es wenige
Lebende, mit denen ich kommuniziere. Die Verbindung wird bald abreißen.
Kameras zeigen ein infernalisches Bild der Außenwelt. Man
könnte diese Farben und bizarren Formen reizvoll finden, wenn
nicht der Schrecken des Untergangs daran geknüpft wäre.
Eine Ironie liegt in der Tatsache, da wir nun tatsächlich auf
eine Zeitreise gehen, in eine unerwartete, ungewollte Richtung.
Wird jemand aus unserem Schicksal etwas lernen? Ich fürchte
nein. Es gibt alte Geschichten von untergegangenen Welten, die in
einer entfernten Galaxis existierten. Auch dort wurde mit dem "Feuer
der Götter", wie es mythologisch verbrämt hieß,
gespielt. Niemand zog aus dieser Erfahrung für sich eine Lehre.
Unser Tod ist in mehrfacher Hinsicht sinnlos. Es kann nur noch ..."
Der Chef klappt den Ordner zu und blickt vor sich
hin. Das Schweigen lastet schwer. Die Blicke wenden sich wieder
der runden Öffnung des Fensters zu. Simon erhebt sich mit krachenden
Gelenken und tritt an das Glas. Andromeda steht hoch im Norden und
bewegt sich unmerklich vorüber. Die Finger der Kakteen recken
sich ihr entgegen. Ab und an huscht ein Schatten vorüber. Ein
Nachttier, das von keiner kosmischen Katastrophe weiß. Etwas
knistert in Simons Jackentasche. Es ist ein Fax, das den Erhalt
der Station garantiert.
(Text: 11. Mai 1997)