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Hanno Erdwein

Signale im Leuchtfeuer

Nebeldicker Zigarettenrauch färbt die Gesichter der fünf Männer grau ein. Die Thermoskanne zwischen ihnen auf dem nackten Holztisch hat außer einem Bodensatz brauner Flüssigkeit nichts zu bieten, was über den Rest der Nacht hinweghilft. Ein diffuses Gelb der altersschwachen Neonröhre an der Decke läßt die spartanische Einrichtung mehr erahnen als klar hervortreten. Niemand investiert einen müden Dollar in eine so hoffnungslose Sache wie die Erforschung des Weltraums. Und auch dieser letzte Außenposten inmitten des asiatischen Niemandslands steht kurz vor dem Aufgeben. Noch tasten routinemäßig die drei Teleskopspiegel den Himmel ab, sind die Empfangsanlagen auf der Frequenz des ESA-Satelliten standby. Nichts wird empfangen, nichts seit fünfeinhalb Jahren, was die Öffentlichkeit aus ihrer auf ausschließlichen Konsum ausgerichteten Gleichgültigkeit aufrütteln könnte. Und für Nichts gibt es keine Fördermittel. Seufzend erhebt sich einer der fünf, reckt seine langen Glieder, streicht sich über das kurzgeschorene Haar und tritt an das kreisrunde Fenster. Der Sand der Wüste schimmert im Licht eines fast vollen Mondes. Schemenhaft ragen da und dort die langen Finger der Kakteen empor. Ein Schatten huscht vorüber, ein Schakal auf Beutefang oder eines dieser scheuen Wüstenratten? Das alles wird bald Vergangenheit sein, wenn es hei t: Die Koffer packen. Und auf dem Rollfeld ein letztes Shake-Hands, bevor der eine nach Frankreich, ein zweiter und dritter nach England und Deutschland, der Vierte nach Rußland und er selbst in die USA abfliegen wird. Er hebt den Blick zum gestirnten Himmel. Trotz des Mondlichts treten die vier Ecksterne des Pegasus deutlich hervor und darüber die schmale Kette der Andromeda. Ein Traum geht zuende, eine Hoffnung, mehr über das kosmische Geschehen in Erfahrung zu bringen, eine Antwort auf die uralte Frage zu finden, ob wir allein im Weltall sind. Bei den abermilliarden Sternen, Kugelsternhaufen und Galaxien wäre es Wahnsinn anzunehmen, da dies alles nur von einem kleinen unbedeutenden Planeten in einem noch unbedeutenderen Milchstraßenarm aus bewußt wahrgenommen wird. Ein so aufwendiges Feuerwerk nur für uns allein? Dies anzunehmen wäre Vermessenheit. Und dieser Gedanke hat in immer schon bewegt, ihn die Laufbahn eines Astronomen einschlagen lassen, ihn hier in die asiatische Wüste geführt, wo er ganz seiner Arbeit hingegeben das Leben eines asketischen Mönchs führt. Vorbei. In seiner Tasche steckt das Fax, welches ihn, den Leiter der Station auffordert, die Auflösung einzuleiten.

Er seufzt abermals und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sirenengeheul läßt ihn in der Bewegung innehalten und sich ruckartig umwenden. Schon sieht er, wie Daniel, der Deutsche aufspringt und zur Tür sprintet. Alle Müdigkeit ist von den Gesichtern gewichen. Die Augenpaare blicken ihn erwartungsvoll glänzend an. Zigaretten werden ausgedrückt und die Haltung signalisiert Bereitschaft, auf Anordnung sofort zu reagieren. Jeder einzelne weiß , was der Alarm bedeutet, ist durch stundenlanges Training auf diesen Fall vorbereitet. Es bedarf keiner überflüssigen Fragen. Seine Hand greift in die Jackentasche, zieht einen Streifen Kaugummi heraus, den er mit nervösen Bewegungen von einer Backe in die andere wandern lä t. Die Tür springt auf. Daniel schwenkt triumphierend ein mit Daten dicht bedrucktes Blatt, das er zwischen die Kaffeetassen und Aschenbecher auf den Tisch gleiten läßt. Fünf Köpfe beugen sich darüber, atemlos die Werte prüfend. "Das ist es", knurrt Yuri, der Russe. "Wir haben es geschafft, Old Fellow!" Die derbe Faust Toms, des grobschlächtigen Engländers drischt auf die Schulter des zarter gebauten Antoine aus Frankreich los. Der zuckt nicht einmal und schüttelt immerfort seinen schwarzen Lockenkopf. Was ist Ihre Meinung, Sir", wendet sich Daniel an den Leiter Simon, der mit so vorsichtigen Bewegungen an den Tisch herantritt, als gelte es, ein vermintes Feld zu durchqueren. Nach einer Weile wortloser Kaubewegungen brummt er: "Sieht so aus, als hätten wir einen erwischt." Alle kennen die karge Art Ted Simons, nicht viel Wortgeräusch zu machen, besonders, wenn es um wesentliche Dinge geht. So hatte er beispielsweise die Tatsache, da die Station aufgegeben werden soll mit dem Satz kommentiert: "Das war's dann wohl, Jungs." Nun prüft er aus schmalen Augenschlitzen die Zahlenreihen, streicht nachdenklich über sein Bürstenhaar und blickt Daniel an: "woher?" "Aus Andromeda." "Präzise?" Daniel räuspert sich verlegen und beeilt sich: "Der Gamma Reburst kommt aus der gro en Andromeda-Galaxie." "Los Jungs, an die Spiegelteleskope!" Seine Hand wischt über Tom und Antoine. "Yuri, sie belauschen die Radiowellen und Daniel liegt im Gammabereich weiter auf der Lauer." Zu sich selbst meint er: "Möchte wetten, daß da noch mehr kommt!"

Die Einteilung ist überflüssig. Seit Jahren liegt sie fest. Nach wenigen Stunden häufen sich die Daten auf Simons Schreibtisch, der sie dem Großrechner zu fressen gibt. Dieser Energieausbruch aus dem Andromedanebel ist spektakulär. Und kaum, da etwas davon an die Öffentlichkeit gedrungen ist, stehen die Telefone der Station nicht mehr still. Die Kollegen der rasch wieder ins Leben gerufenen übrigen Stationen fordern Daten an. Presse, Funk und Fernsehen erwarten Statements, Regierungsbeamte zeigen plötzlich erwachtes Interesse für diesen bereits totgesagten Zweig der Forschung. Dann noch die Flut besorgter Bürger, die eine Art Weltuntergangspanik zeigen und beruhigt werden müssen. Aus ist es mit der ruhigen Forschungsarbeit. Er hat nur noch zwischen Faxgerät, Fernschreiber und Telefon hin und her zu springen.

"Ted, ich hab was merkwürdiges entdeckt." Yuri streckt den Kopf zur Tür herein und zeigt auf eine Cassette in seiner Hand. "Komm rein und drück mal auf den Knopf da." Die Hand des Leiters zeigt auf die Zentralsperre an der Wand. Mit einem Schlag verstummt das Dauergebimmel, hören die Datengeräte auf zu rattern. Simon stöhnt erleichtert auf, schiebt sich einen frischen Kaugummi zwischen die Zähne und fordert Yuri auf: "Schie los, Old Fellow!" Der steckt die Cassette in einen Recorder, startet und blickt Simon gro äugig an. "Was ist das?", fragt der, scheinbar wenig beeindruckt. "Weiß nicht. Hört sich an, als wären es modulierte Signale." "Woher?" "Andromedanebel." "Kein Zufallsprodukt?" "Dafür sind die Sequenzen zu präzise." "La mal hier. Wollen sehen, ob unser Schlaumeier damit was anfangen kann." Yuri grinst zweiflerisch und schlüpft hinaus.

Bilder und Radiogeknatter des großen Ausbruchs im Andromedanebel, der Nachbargalaxie, machen die Runde um den Erdball. Die aktuellen Tagesmeldungen jeder Sprache berichten ausführlich darüber. Wissenschaftler werden befragt, geben vage bis ausweichende Stellungnahmen ab. Man wei noch zu wenig von diesen kosmischen Ereignissen. So wird die Erdbevölkerung mit Mutmaßungen gefüttert. Man erklärt das Spektakel mit dem Kollaps eines Riesensterns, der einen Teil seiner Masse in den Raum schleudert, um dann zu einem schwarzen Loch zusammenzuschrumpfen. Ob das auch in unserer eigenen Galaxis passieren könne, will man besorgt wissen. Das könne überall geschehen, ist die Antwort. Aber beruhigend fügt man hinzu, es sei allerdings sehr unwahrscheinlich. Ob dieser gigantische Ausbruch, der ja gar nicht weit vor unserer Haustür geschehe, nicht negative Folgen für die Erde habe. Auch hier beeilt man sich, der aufkommenden Panik den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das Licht eines Glühwürmchens sei weitaus gefährlicher für unser Leben als dieser Ausbruch, der dazu noch vor Millionen Jahren passiert sei. Und schon geht man zur Tagesordnung über, zeigt Fußballergebnisse und Tennis-Match-Bälle.

"Was haltet ihr davon?" Jeder hält einen Computer-Ausdruck in der Hand und Simon blickt die vier erwartungsvoll an. "Sieht nach einem verschlüsselten Text aus. Wo hast du das her?" "Yuris Cassette. Hab den Compy darüber schwitzen lassen." Daniel kraust die Stirn: "Hat eine eindeutige Textstruktur, wenn auch total chaotisch für unser Empfinden." "Könnte nicht sagen, da es irgendeiner irdischen Sprache gleicht", brummt tom, der polyglotte Schliemann unter den Fünfen. "Wie wäre es mit einer Logik-Analyse? Ich meine, Häufigkeit sich wiederholender Strukturen und so weiter", schlägt Antoine vor. Simon zieht ein weiteres Blatt aus der Mappe: "Längst geschehen. Aber ... ich weiß nicht ... hört selbst!" Er legt das Blatt vor sich hin, streicht es unnötigerweise nochmals glatt, blickt starr darauf, hebt den Kopf und prüft die Gesichter seiner Kameraden, die ihn erwartungsvoll anstarren, bevor er räuspernd beginnt: "Es ist ein Fragment. Der Anfang fehlt. Und es ist auch nicht alles eindeutig verständlich. Doch bei einigem Nachdenken versteht man, worum es geht. Der Text beginnt mitten in einem Satz - ... morbide Kultur. Uralte Welt in... (Hier folgt eine astronomische Angabe, die beim besten Willen nicht definiert werden kann.) ... im 135. (Das folgende muß eine Datumsangabe sein, wobei wir nicht wissen können, wie sich ein solcher Kalender zusammensetzt.) Mein Name ist Oing Houngan (phonetische Wiedergabe) und ich will über die jüngsten Ereignisse berichten. Mögen die (nicht einzuordnender Begriff) uns gnädig sein. Es geht auf das Ende zu. Ich wende mich an alle, die dies lesen können. Es sind die letzten Lebenszeichen einer sterbenden Welt. In wenigen Zeitspannen wird das Entsetzliche geschehen, wird diese Daseinsform, diese wunderschöne Welt für immer ausgelöscht. Und wir sind unser Unglück selber schuld. Wir haben durch unsere Maßlosigkeit die Dinge heraufbeschworen, die in den Untergang führen. Machtgier und Habsucht sind die Auslöser des bevorstehenden Schreckens. Eine dumme Ignoranz der möglichen Katastrophe gegenüber ließ die Hirne blockieren, die herzen verhärten. Noch jetzt glaubt niemand an den Untergang, der sich jedem, der nicht blind und taub ist, deutlich ankündigt. Ich weine und benetze die Apparatur mit meinen Tränen. Ich weine über die Unabwendlichkeit, mit der wir aus dem All verschwinden werden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ich weine und hoffe, da jemand dies empfangen wird und mit mir trauert. Ich ... (Hier bricht Yuris Aufzeichnung ab.)" Simon lehnt sich zurück, schiebt den unvermeidlichen Kaugummi aus der linken in die rechte Backe und verschränkt die Arme vor der Brust. "Ist sichergestellt, da der Rechner nicht irgendwas daherfaselt?", fragt Tom stirnrunzelnd. "Hundertprozentig", nickt Simon. "Klingt mehr nach den Problemen unserer eigenen Welt", meldet sich Antoine, "wie kommt die Maschine eigentlich zu so einer klaren Interpretation?" "Vergleichende Semantik. Frag mich aber nicht, wie das im einzelnen funktioniert. Bin kein Informatik-Spezi." "Was mag dieser Schreiber mit der selbstverschuldeten Katastrophe gemeint haben?", grübelt Daniel. "Vielleicht haben sie mit der Kernfusion herumgespielt", schlägt Yuri vor. Simon schüttelt energisch den Kopf: "Das löst kein Reburst aus." Müssen denn beide Ereignisse zeitgleich erfolgt sein?", wirft Tom ein. Daniel legt sein Blatt aus der Hand: "Mutmaßungen führen zu nichts. Aus den wenigen Fakten läßt sich nur wild spekulieren. Wir brauchen mehr, vor allem handfeste Angaben und keine Literatur. Wie steht es, Yuri? Strahlt die Quelle noch? Kommen weitere Cassetten?" "Hab noch sieben Stück. Gestern Mittag gegen eins kam das letzte rüber." "Gut", ächzt Simon, sammelt die Blätter ein, klappt die Mappe zu und brummt: "Vertagen wir die Sache, bis der Rechner die weiteren Daten ausgespuckt hat. Und ...", er blickt jeden einzelnen scharf an, "keinen Krümel davon an die Öffentlichkeit!" Zustimmendes Nicken. Dann geht jeder an seine Arbeit.

Und doch bleiben die spektakulären Geschehnisse auf der weltabgeschiedenen Wüstenstation nicht verborgen. Zuerst ist es ein privater Unterhaltungssender, der über mysteriöse Informationen einer außerirdischen Zivilisation mutmaßt, in Talkshows Politiker, Wissenschaftler und Geistliche nach ihrer Meinung befragt. Das ist zwar recht unterhaltend, regt aber niemanden sonderlich auf, weil es unter Kurioses abgetan wird. Sobald aber auch ernstzunehmende Sendeanstalten mit wörtlichen Zitaten aus dem Text aufwarten, heftige Diskussionen über die Seriosität der Quelle entbrennen, kann sich Simon vor Anfragen nicht mehr retten.

"Irgend jemand hat gequatscht!", schnaubt er wütend und stapft in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Yuri sitzt am Fenster, eine kalte Zigarette im Mundwinkel. Im Allerheiligsten des Chefs darf nicht geraucht werden. "Irgendwer hat denen da drau en was über unsere Arbeiten erzählt und sogar Teile des Textes zugespielt. Ich begreif es nicht!" Je mehr sich Simon aufregt, um so stärker schlägt seine Wortkargheit ins Gegenteil um. "Einer von uns Fünfen ..." Statt des Kaugummis zerbeißen seine Zähne das Ende eines Bleistifts. Das Knirschen untermalt den Grimm seiner Worte. Die Fäuste rumoren in den Hosentaschen mit den wenigen Gegenständen. Ruckartig macht er vor Yuri Halt und sieht ihn nachdenklich an: "Sag mal, du bist doch unter uns der einzige Funkamateur?" Yuri nickt treuherzig. Doch der Bereich um seine Nase wird um eine Spur blasser. Mit nervöser Bewegung nimmt er den Glimmstengel von den Lippen und schiebt ihn sich hinters Ohr. "Du hast den engsten Kontakt mit der Außenwelt. Mal ehrlich, Old Fellow, hat deine Morsetaste nicht ein wenig zuviel geklappert?" Yuri senkt den Blick auf die Fu spitzen. "Motherfucker!" Schnaubend nimmt Simon sein hektisches Hin und Her wieder auf. In diesem einen Wort entlud sich die ganze Wut. Rasch glättet sich seine Stirn. Den angekauten Bleistift wirft er in die Schreibtischschale und ersetzt ihn durch einen Kaugummi. Dann stößt er mit dem Fuß einen Stuhl zurecht und nimmt rittlings vor Yuri Platz. "Was mach ich nur mit dir, du Unglückswurm?" Der Russe hebt versuchsweise den Blick und flüstert: "Ich wollte ja nichts ..." "Weiß ich", würgt der Chef seine Beichte ab, "ihr Funkheinis seid nun mal ein verquatschter Haufen." Seine Kiefern malmen den Gummi eine Weile zurecht, bis er den Satz fortsetzt. "Mein Fehler. Hätte mich vorher drum kümmern sollen und keinen Tastenklopfer ins Team nehmen." "Werd ich jetzt ...?" "Nichts wirst du", unterbricht ihn Simon ein zweites Mal. "Ist vielleicht ganz gut, da die Sache auf diese Weise publik wird." Er kratzt sich nachdenklich am Hinterkopf. "Vielleicht ist das sogar ein ganz geschickter Schachzug." Beim Aufspringen schlägt er Yuri auf die Schulter: "Kopf hoch, Old Fellow! Hol die Jungs zur Generalbesprechung!"

Simons Andromeda-Mappe ist mächtig angewachsen. Flüchtig blättert er darin, liest hier ein paar Sätze, macht sich Notizen, blättert weiter, um erneut ein paar Zeilen zu übernehmen. Nun hebt er den Kopf, stellt fest, da alle versammelt sind und beginnt: ""Da die Öffentlichkeit inzwischen über die Botschaft aus dem All Bescheid ..." "Verdammt noch mal", poltert Tom los, "wer hat denn da nicht dicht gehalten?" "Tut hier nichts zur Sache", wischt Simon die Frage vom Tisch. "Da also jetzt bekannt ist, da wir Nachrichten aus dem Andromeda-Nebel erhalten haben, sind wir gezwungen, den Inhalt bekannt zu geben." "Wir sollen den kompletten Text ...?", wundert sich Antoine. Die Mundwinkel des Chefs kräuseln sich unter einem ironischen Lächeln. "Über das Wieviel und Was werden wir hier gemeinsam entscheiden." Ein erleichtertes Aufatmen macht die Runde. Es ist wieder jener Aufenthaltsraum, in dem die Besprechung stattfindet. Die Thermoskanne ist gut gefüllt. Zigaretten werden angezündet. Vor der runden Scheibe zieht ein abnehmender Mond langsam vorüber. "Wie sollen wir was entscheiden, wenn wir noch nicht einmal den vollen Wortlaut kennen?", wundert sich Daniel. "Den sollt ihr gleich erfahren." Seine Hand blättert zu den ersten Seiten des Ordners zurück. "Immer sollen wir uns mit Zuhören zufriedengeben. Warum bekommen wir nicht das Original zu lesen?" Simons Hand hebt sich leicht von der Tischplatte und schnalzt. "Denkt mal darüber nach!" "Ach ja, j'ai compris", murmelt Antoine. Und Yuri senkt seine Nase tief in die Kaffeetasse.

In der folgenden halben Stunde, in der vor dem Fenster die Mondsichel den Sternen des Pegasus weicht, trägt Simon mit nüchterner, fast monotoner Stimme die dramatischen Ereignisse jener räumlich und zeitlich fernen Welt vor. Die Worte im Ohr wenden sich die Blicke aller fast schon zwanghaft dem dunklen Rund zu, suchen oberhalb der vier Ecksterne des geflügelten Pferdes den winzigen Nebelfleck, der die Andromeda-Galaxie darstellt, vermeinen das Leuchtfeuer wahrzunehmen, aus dem das Signal über die unendliche Zeitkluft zu ihnen herabkam. Keiner kann sich eines leisen Schauders erwehren, während Simon den allmählichen Untergang jenes hochtechnisierten und geistig hochstehenden Volks vor ihren innerem Auge vorüberziehen läßt. Erfindungen werden genannt, die ihr Vorstellungsvermögen übersteigen, technische Projekte, die derart ins Gigantische gehen, da keine irdischen Maßstäbe als Vergleich herhalten. Letzten Endes ist von einer Zeitblase die Rede, mit der die interstellare Raumfahrt realisiert werden sollte. An diesem Projekt entbrannte eine heftige wissenschaftliche Kontroverse zwischen Befürwortern und Skeptikern. Wo die Ersteren den dringenden wirtschaftlichen Aufschwung und eine neue Basis für Grundlagenforschung sahen, malten die Gegner das Vorhaben in schwärzesten Farben. Für sie bahnte sich hierdurch eine kosmische Katastrophe an, in der alles Leben auf stellarer, wenn nicht galaktischer Ebene zerstört werden müßte. Zur Erzeugung einer leistungsfähigen Zeitblase dieses Ausmaß es sei die Energie etlicher Sonnen notwendig. Und dafür wär weder das nötige Wissen ausreichend noch die Technologie genügend entwickelt. Allzu rasch könne das Experiment sich verselbstständigen und eine Kettenreaktion ungeahnten Ausmaßes annehmen. Doch die Kassandra-Rufe verhallten ungehört oder wurden verlacht. Zuviele profitierten direkt oder indirekt an der Verwirklichung dieses uralten Traums. Es vergingen mehrere Generationen, bevor mit der eigentlichen energetischen Umsetzung begonnen werden konnte. Bis dahin waren die beteiligten Planeten finanziell ausgeblutet. Ganze Bevölkerungsschichten hungerten. Widerstandsgruppen und Aufstände schlug man brutal nieder. Auf allen Welten erhoben sich Propheten des nahen Untergangs. Konnte man sie nicht lächerlich machen, wurden sie eingesperrt und hingerichtet. Dabei arbeitete man fieberhaft an dem interstellaren Aggregat zur Erzeugung der gigantischen Energie für die Zeitblase. Es war ein offenes Geheimnis. jeder wußte es, doch niemand wagte laut darüber zu sprechen, da mangels ausreichender Geldmittel gestümpert und geschlampt wurde. Die Zeit des Countdown rückte heran, von manchen ersehnt, von den meisten aber herbeigefürchtet. Und dann geschah das Unausbleibliche. Vorzeitige Zündung. Der Sternreaktor geriet au er Kontrolle, ri wie ein stellarer Staubsauger alles an sich. Zunächst fraß er binnen kurzer Zeit die nahen, zuletzt die entfernteren Sonnen mit allen lebentragenden und toten Planeten, bevor er kollabierte und mit einem kosmischen Feuerwerk zum schwarzen Loch wurde. Niemand entging dem Untergang, selbst jene nicht, die sich in Raumschiffen zu retten versuchten. Wurden sie nicht in den Strudel gerissen, ereilte sie die Schockwelle der Explosion. Der Autor jenes denkwürdigen Funkspruchs konnte die Entwicklung bis zuletzt verfolgen und in allen Einzelheiten darstellen. Dann wurde auch seine Welt in den Strudel gezogen. Bis zuletzt blieb er auf Sendung und ließ die fernen Beobachter an der Katastrophe teilhaben, bis ihm förmlich die Sendetaste unter der Hand verglühte.

"Ich sitze in einem besonders isolierten Schutzraum mit Klimaeinrichtung. Die Atmosphärenhülle des Planeten ist bereits weggerissen. Unser Sonnensystem stürzt immer rascher auf das Zentrum der Vernichtung zu. Die Meßinstrumente zeigen unvorstellbare Werte an Beschleunigung. Au er mir gibt es wenige Lebende, mit denen ich kommuniziere. Die Verbindung wird bald abreißen. Kameras zeigen ein infernalisches Bild der Außenwelt. Man könnte diese Farben und bizarren Formen reizvoll finden, wenn nicht der Schrecken des Untergangs daran geknüpft wäre. Eine Ironie liegt in der Tatsache, da wir nun tatsächlich auf eine Zeitreise gehen, in eine unerwartete, ungewollte Richtung. Wird jemand aus unserem Schicksal etwas lernen? Ich fürchte nein. Es gibt alte Geschichten von untergegangenen Welten, die in einer entfernten Galaxis existierten. Auch dort wurde mit dem "Feuer der Götter", wie es mythologisch verbrämt hieß, gespielt. Niemand zog aus dieser Erfahrung für sich eine Lehre. Unser Tod ist in mehrfacher Hinsicht sinnlos. Es kann nur noch ..."

Der Chef klappt den Ordner zu und blickt vor sich hin. Das Schweigen lastet schwer. Die Blicke wenden sich wieder der runden Öffnung des Fensters zu. Simon erhebt sich mit krachenden Gelenken und tritt an das Glas. Andromeda steht hoch im Norden und bewegt sich unmerklich vorüber. Die Finger der Kakteen recken sich ihr entgegen. Ab und an huscht ein Schatten vorüber. Ein Nachttier, das von keiner kosmischen Katastrophe weiß. Etwas knistert in Simons Jackentasche. Es ist ein Fax, das den Erhalt der Station garantiert.

(Text: 11. Mai 1997)


 



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