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Purgatorium

Aus Crolls Reihe: "Neues von der Fleischtheke"

914 Wörter

Seit Wochen haben die Kaufhäuser Sonderflächen mit Schulheften, Schultüten und Schulranzen eingerichtet. Jeder könnte wissen, was geschehen wird. Doch die Riesenstapel liegen wie Blei auf den Paletten, die Men-schen kaufen unbeirrt Unterwäsche und Sandaletten. Auch wenn die Kleinen schon ins sechste Schuljahr gehen.


Unweigerlich kommt dann doch der erste Schultag. Jetzt schreiben Tausende von Lehrern an Tausende von Tafeln, welch' Heft es sein soll für das Diktat und die Musik, berandet, rautiert, gelocht. Und ein Parabellineal. Vielleicht noch einen Borstenpinsel, Größe drei?


Nun strömen Massen scheinbar eifriger Schüler, Haufen anscheinend pflichtbewußter Muttis und Vatis in die Kaufhallen dieser Welt. Und leider auch zur Kaufhalle in W. Und ich bin mitten unter ihnen.


Meine Söhne haben einen gemeinsamen Zettel verfaßt, und der liest sich so schlicht, daß ich auf einen Einkaufswagen leichtfertig verzichte. Als wüßte ich nicht, wie schwer Papier sein kann, wenn es im Zehnerpack ge-bündelt ist. Angeblich ist es "holzfrei", aber das Gewicht eines Festmeters schleppe ich schon bald mit mir herum.

Ich hätte ja auch zuerst nach dem Parabellineal suchen können, leichtfüßig. Wahrscheinlich wollte ich die Erinnerung an meist ziemlich verwurstete Parabeln meiner Schulzeit möglichst weit nach hinten schieben - aber ich schiebe ja gar nichts, ich trage.

Irgendwo in diesem Paradies für ordentliche Streber muß es doch auch die verlangte Rolle Tesafilm geben?!

Muttis in meiner Altersklasse begegnen mir immer wieder, von Gang zu Gang, die ebenfalls den Zeichen auf ihren Zetteln folgen und ihre Töchterchen davon abhalten, das bunteste und teuerste Mäppchen zu kaufen. Es wirkt wie ein Klassentreffen in einem Labyrinth aus Linien, Rauten und Einbandhüllen, und unser Ariadnefaden ist ein abgerissenes Stück Papier mit DIN-Angaben und deutlichen Warnungen: Geha-Patronen! Extradeckweiß! Nur Breitrand! Nicht perforiert!


Die Krönung meiner Sammeltätigkeit ist ein kleiner, aber stabiler Locher, der mir mit seinen 200 Gramm den Rest gibt. Nur raus aus diesem Irrgarten!


Ich suche die Kasse und finde eine einzige, sogenannte Zentralkasse. Ohne mein Wissen und Ahnen hat sich hier inzwischen eine Giftschlange gebildet, die ohne Not das komplette Personal einer mittleren Schulkonferenz abgeben könnte. Sie tut es nicht, sondern harrt auf die Übergabe ihrer Zahlungsmittel. Harrt, aber gerecht: Niemand drängelt sich vor. Ich bin wohl allein mit meinem Entsetzen über die Personalpolitik dieses Geschäftes.

Und wie es immer ist, wenn ich entsetzt bin, folgt nun noch Nadelstich auf Nadelstich: Das Lesegerät entziffert partout den Preis des Lineals nicht - noch neun Kunden bis Buffalo.


Das Lesegerät würde gern entziffern, findet aber gar kein Preisschild; die einzige Kassiererin dieser Welt macht sich auf den Weg, es zu suchen, an anderen, winzigen Päckchen mit Reißzwecken, irgendwo in den Fernen des Alls. Während ich mich frage, ob sie nicht besser ein Bündelchen mit Proviant auf die Reise mitgenommen hätte, ist sie, husch!, schon wieder da - noch acht Kunden bis Buffalo.


Man kann auch Schreibwaren minderen Werts mit Kreditkarte bezahlen! "Weiß jemand, wie das geht?"


Noch sieben Kunden. Äußerste Perfidie: Ich gerate nun in den Erfassungs-bereich einer Überwachungskamera. Die letzte Kassiererin dieser Welt soll nicht nur kassieren, verpacken und Schildchen suchen, sie muß auch noch überwachen! Was? Wen? Mich? Ich wende den Blick zum Monitor und erschrecke über das blanke Entsetzen in meinem Gesicht: So sehen Menschen auf Polizeivideos aus. Die letzten Minuten vor dem Amoklauf. Der Staatsanwalt: "Schon in diesen Minuten wird der schreckliche Tötungswille für uns alle erkennbar und..."


Noch vier. Ich bin privilegiert an dieser Stelle der Packordnung: Meine Sachen wuchte ich schon mal auf den Kassentisch, blicke mich jetzt fast erleichtert um.
Neben uns, die wir nun das Schlangenhaupt bilden, steht auch die einzige Umkleidekabine dieser Welt! Vielleicht hängt dazu die Kamera dort oben? Mir wird mulmig, denn der Vorhang schwingt hin und her und verbirgt nur mäßig die Maße eines Herren, dessen Initialen wohl XXXL lauten müssen. Jetzt erst merke ich, wie heiß es in der Schnaufhalle ist. Ich schwitze mit.


Noch zwei.

Ich WUSSTE es! Diese gemeine, widerliche und überflüssige Rolle weißen Papiers ist immer zuende, wenn ich bald dran bin! Bevor ich laut aufschreien kann, denke ich an die steuerliche Wirksamkeit des Eintrags, der meinen Büroartikeleinkauf um mindestens 90 Pfennig verbilligen wird.

Ich warte. Und beruhige mich beim Blick auf den blonden Zopf des Mädchens vor mir. Sie ist bestimmt zehn oder elf und trägt mit großer Ruhe ein billiges Barbie-Imitat in den Händen. Wieso ist sie mir bisher nicht aufgefallen? So groß ist meine Ungeduld also schon, daß ich eher den Dicken bemerke, der immer noch stöhnend Hosenbünde vereinigen will.

Ich bin beschämt, weil ich so viel Haß und Arroganz und Ungeduld empfinde hinter einem Aussiedlermädchen, das nicht einmal das Geld für eine echte Barbie hat und völlig entspannt wartet und wartet. Ich bemerke, daß das Schildchen auf der Pappschachtel dick und rot durchgestrichen ist - ein Restposten. Und dafür diese Warterei durchstehen?


Ich reiße mich zusammen. Da ist sie, die letzte Kundin vor Buffalo, endlich an der Reihe. Die Kassiererin macht schnell und will ihr das Püppchen schon aus der Hand nehmen, da erschrickt das Mädchen und fragt hastig: "Ich wollte nur wissen: Können Sie mir sagen, was die Puppe kostet?" Ratsch, der Laser drüber, läßt sich nicht stören vom Rotstrich: "Dreiachtzig." - Kein Geld fällt nun abgezählt aus Kinderhand, kein Strahlen über so ein Schnäppchen erleuchtet das schmale Gesicht.

"Danke", sagt sie, und legt das Püppchen zurück.

"Kann ich Ihnen helfen?" Die letzte Kassiererin weckt mich mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. Hinter mir schlängelt es noch. Die Polizei schaltet das Video ab. Der Staatsanwalt macht sein Feierabendgesicht.

© Simon Croll 2003 - Ihr Kommentar bitte hierhin

 



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