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Hanno Erdwein

Stunde des Pan

Hangabwärts durch's dichte Unterholz schlüpft lautlos eine Gestalt. Die Arme eng an den Körper gepreßt, windet sie sich mal hierhin, mal dorthin, um den Dornen der Schlingpflanzen auszuweichen. Mit der rechten Hand umklammert sie den Griff einer Keule. Die Linke hält den Bogen. Vom Rücken herab, jede Bewegung des schlanken, muskulösen Körpers mitschwingend, hängt der Köcher mit den gefiederten Pfeilen. Die Steinspitzen sind scharf und mit Widerhaken versehen. Auch das Messer im Gürtel ist kunstvoll aus einem Stein herausgeschlagen. Es ist ein junger Mann, der hier den nachtdunklen Bergwald durchquert, um noch vor Tagesgrauen drunten im Grasland die Spur eines Bison aufnehmen zu können. Am Vorabend hatte er sich bereits von seiner Familie getrennt und sie in sicherer Obhut der Höhle zurückgelassen. Die großen Augen seiner hungrigen Kinder waren kaum noch zu ertragen. Ebenso quälend war der Anblick des Jüngsten in den Armen seines Weibes, der an den milchleeren Brüsten saugte. Obwohl die Zeit der großen Wanderung für Bisonherden erst bevorstand, zog er die vage Hoffnung auf Beute dem trübseligen Abwarten in dumpfer Höhlenluft vor.

Da, leises Plätschern voraus. Er bleibt stehen und hält den Atem an. Schwach nimmt er die Bewegung von Hufen wahr, die fern einer Wasserstelle zustreben. Noch dringt kein Streifen Licht durch die Blätter. Kein Vogellaut meldet den nahen Tag. Dennoch weiß der Jäger ebenso wie das Wild, daß dicht am Horizont bereits eine blasse Andeutung von Licht heraufsteigt und der Kampf ums Überleben von neuem beginnt. Es ist Vorsicht geboten. Deshalb prüft er, bevor er weitergeht, die Richtung des Luftstroms. Zufrieden macht er sich wieder auf den Weg. Noch behutsamer und geräuschloser als bisher schlängelt er sich von Baum zu Baum und durch Strauchwerk hindurch, setzt seine Füße nur dorthin, wo kein knackender Zweig die Bewegung verraten könnte. Er wird zum Phantom, das annähernd lautlos und um ein weniges dunkler als die Nacht dahinhuscht. So erreicht er den Waldrand. Fest an einen Stamm gepreßt späht er ins Freie. Vor ihm liegt sein Ziel, das wellige Grasland, die Weidegründe der Bisons. Von links ist das Gräusch des Wassers nun deutlicher wahrnehmbar, der schmale Fluß. Grau liegt die Dämmerung auf dem Land von einem blaßroten Streifen tief am Horizont gesäumt. Stark hängt der Geruch nach Erde und Feuchtigkeit in der Luft. Das Herz des Jägers verdoppelt seine Schläge. Er duckt sich zu Boden und schleicht vorwärts, den Schutz der hohen Halme nutzend. Am Rand der Uferböschung hält er an und schaut hinab. Wie erwartet sieht er dort eine Bison-Familie, Kuh und zwei Kälbchen mit den Vorderhufen im seichten Flußbett stehen und trinken. Nicht weit davon der Bulle. Wache haltend geht er hin und her und zieht schnaubend die Luft durch die Nüstern. Behutsam legt der Jäger die Keule ins Gras und holt einen Pfeil aus dem Köcher. In Deckung des Grases läßt er sich auf ein Knie nieder. Halm um Halm schneidet er mit dem Messer einen Schußkanal, der auf die trinkende Gruppe zielt. Dann bringt er den Pfeil an den Bogen und visiert das linke, ältere Kälbchen an. Es wird eine herrliche Zeit bedeuten, mit dem Fleisch des Tieres heimzukommen. Er würde das Tier zerlegen und die Frau die Stücke über dem Feuer zubereiten. Alle würden satt werden, endlich einmal wieder satt für mehrere Tage! Aber was ist das?! Vom jenseitigen Uferrand löst sich ein Schatten. Der Bulle brüllt auf. Die Kuh macht einen Satz rückwärts und treibt das jüngere Kalb vor sich her. Alle drei preschen dicht an dem Jäger vorbei ins Grasland. Für das ältere Kalb ist es zu spät. Die Raubkatze beugt sich über den aufgerissenen Hals des Tieres und saugt sein Blut.

Viel hat der Feind nicht übrig gelassen. Der Jäger steht enttäuscht vor den Resten. Nun wird es wieder nichts mit vollen Mägen und zufriedenen Gesichtern daheim. Sein Fuß wälzt die blutigen Knochen auseinander. Nein, nichts Brauchbares dabei! Traurig hockt er sich hin und blickt aufs Wasser. Blaß steigt der Tag herauf und nistet graublau in den Baumkronen. Der Fluß zeigt ein flackerndes, waberndes Abbild. Schaumkronen senden die Stromschnellen, Zweige und Laub der Windbruch. Die Hand des Jägers tastet ziellos am Boden, sein Auge schweift hierhin und dorthin, sein Herz zieht trübe mit der Flut. Jetzt greift die Hand einen Gegenstand und rollt ihn spielerisch zwischen den Fingern. Der Tag bekommt Farbe. Rot glüht es unter den Bäumen. Licht und Blau streben auf zum Zenith. Die Kelche der Blüten öffnen sich und entfalten ihr tauglitzerndes Farbspiel. Vogelkehlen begrüßen schon lange den jungen Tag in vielen Tonarten. Das Ohr des Jägers ist taub; denn aus allem klingt ihm das Klagen und Weinen seiner hungrigen Kinder entgegen. Die Nase ist unempfindlich für die unterschiedlichen Düfte, die der schwache Luftstrom von allen Seiten heranträgt. Sie wird den Modergeruch der Höhle nicht los, den Gestank wochenlanger Entbehrung. Die Hand hebt den glatten, kühlen, länglichen Gegenstand hoch und führt ihn wie selbstverständlich zum Mund. Die Brust des Jägers entspannt sich und sein Mund entläßt einen Seufzer. Der Atem geht durch die Höhlung des Rohrs und verwandelt sich zum klagenden Ton. Jetzt erst wird der Jäger aufmerksam und betrachtet das, was er in seiner Hand hält. Es ist ein hohler Röhrenknochen, hier und dort schon ein wenig schadhaft und löchrig. Nun bläst er bewußt in die Öffnung. Die Klangerscheinung wiederholt sich. Tief und voll schwebt der Ton in der Morgenluft. Verwundert hält sich der Jäger den singenden Knochen vor's Auge und schaut hindurch. Er fragt sich, wo wohl die Stimme herkommen mag, die er durch seinen Atem aufgeweckt hat. Nichts Außergewöhnliches ist zu sehen. Innen ist der Knochen glatt und glänzend. Erneut nimmt er das Rohr an die Lippen und legt zufällig den Daumen auf eines der Löcher. Fast hätte er vor Staunen den Knochen fallen lassen. Ein ganz anderer, wesentlich hellerer Klang ist nun zu hören. Stirnrunzelnd dreht er das klingende Wunder hin und her. Dann beginnt er, einer Laune folgend, mit weiteren Fingern Löcher zu bedecken. Das Ergebnis ist verblüffend. Immer neue Arten, mal zart und hell wie eine Vogelstimme, mal röhrend tief wie der Schrei des Rothirschs entlockt er dem Knochen.

Wärend die Sonne stetig steigend hinter dem Wald an Höhe gewinnt und sich ihr Rotgold mehr und mehr in ein gleißendes Weißgold wandelt, während das Leben am Fluß und im schattigen Bergwald an Geschäftigkeit zunimmt und der Wind in den Halmen des Graslandes sein Morgenlied singt, hält der Jäger ein löchriges Rohr an den Mund und zaubert wohlklingende Töne hervor. Vergessen sind Trauer und Enttäuschung, vergessen das Kalb und die Raubkatze, vergessen auch - ein ganz klein wenig vielleicht - die dumpfe Höhle daheim voller Sorgen. Staunen erfüllt die Natur über den neuen Klang, der sich laut und immer vielseitiger breitmacht. Der Wind legt zu und bläst um die Wette mit. Vögel flattern herbei und muntern den Spieler durch Triller und Kadenzen zu immer gewagteren Spielweisen auf, bis sie merken, daß sie sich einen Meister heranbilden und mutlos davonfliegen. Igel und Eichhorn machen blanke Augen. Dergleichen ist neu für ihre Ohren. Und aus dem Wasser erhebt sich hie und da ein schuppiger Kopf. Selbst unter Forellen hat man dergleichen noch nicht gehört. Nun springt der Jäger auf und bewegt zu seinen Tonfolgen zuerst den Oberkörper hin und her. Das steigert die Lust, die er beim Hervorrufen der Klänge empfindet. Allmählich geht die Bewegung auf den ganzen Körper über. Er wiegt und dreht sich, macht kleine, größere Sprünge und läßt immer wildere Melodien hören.

Erschöpft läßt er sich ins Gras fallen. Sein Leib glüht und ist wohlig ermattet, der letzte Rest von Traurigkeit einem Gefühl satter Zufriedenheit gewichen. Ihm ist, als hätte er bei seinem Weib gelegen. Er schließt die Augen und genießt die ersten wärmenden Sonnenstrahlen, die über die Baumkronen hinweg das Flußtal erreichen. Der Wind streicht mit sanftem Finger durchs Halmenmeer. Vom Fluß kommt gleichmäßiges Raunen. Fern brüllt ein Rind. Ein Rind? Hellwach springt der Jäger auf, schiebt das singende Rohr in den Köcher und eilt zum Grasland hinauf. Er späht, mit der Hand die Augen beschattend, hinaus. Richtig! Weit hinten am Horizont ist Bewegung und kommt näher. Der große Zug der Bisons! Jetzt beginnt die Jagd und die Seinen werden doch noch satt. Übermütig greift er in den Köcher und zieht das Rohr heraus. Er spielt. Er macht Musik. Sie ist von nun an sein Trost.

(c) Bonn 1991



 



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