Hanno Erdwein
Der Mann im Mond
Es war nicht seine Absicht, auf dem Mond zurück zu bleiben. Was
ist schon der Mond? Ein toter Dreckhaufen aus Staub, Sand und
Gestein. Lebensraum mußte man mitbringen. Vorhanden war hier
nichts, was in irgendeiner Weise Überleben hätte sichern können.
Und doch blieb er zurück aus Pech, purem Zufall oder
Gedankenlosigkeit seiner Kameraden.
Das war die letzte von zwanzig Missionen, den Mond auf eine
komerzielle Nutzung hin gründlich zu untersuchen. Die
ausgesandten Teams verbrachten immer längere Zeiten, sogar
mehrere Monate auf dem Erdtrabanten. Zu diesem Zweck hatte man
aus Kontainern eine kleine Station errichtet, die die Basis der
geplanten Siedlung bilden sollte. Wasserstoff und Sauerstoff war
genug im Mondgestein enthalten, daraus das überlebensnotwendige
Wasser zu synthetisieren. Zwar schmeckte es brrrr. Ohne Zusätze
mochte es niemand schlucken. Aber das und die regelmäßige
Wiederkehr des Sonnenlichts sicherten die Grundversorgung mit
Luft, Wasser und Energie. Das schien Spekulanten und Abenteurern
genug, ihre Hände nach dem Mond auszustrecken. Aber es kam alles
anders, als sich die wohlhabenden Staaten das gedacht hatten.
Krieg in Ostasien expandierte weltbrandartig gegen die westliche
Welt. Die Mondmission wurde hektisch abgebrochen. Fluchtartig
startete man die Färe und vergaß, daß er noch draußen
herumlief.
Er trat aus der Höhle, als das Schiff bereits der Erde
entgegenraste. Auf Funkruf reagierten weder der Kommandant noch
die Bodenstation. Er saß fest. Und es blieb ihm nichts anders
übrig, die Vorräte zu überprüfen. Es reichte mal
gerade für drei
Monate, wenn er sparsam wirtschaftete. Drei Monate? Und was
dann? Sollte er sich dann den Blaster an die schläfe halten und
abdrücken? Vorerst begnügte er sich damit, das Treiben dort
drüben zu verfolgen. Aus dieser Distanz schien es ihm, als wäre
man dort verrückt geworden. Der Krieg eskalierte zur totalen
Vernichtung. Die großen Städte hatte man bereits in radioatkive
Wüsten verwandelt. Jetzt jagte man sich mit kleineren atomaren
Waffen quer über die Kontinente. Im Verlauf von drei Wochen war
das Steinzeitalter auf Terra zurückgekehrt. Er saß am lunaren
Teleskop und sah den Grad der Verwüstung. Dann ließ er seinen
Tränen freien Lauf.
Am Ende des zweiten Monats teilte er sich die verbliebenen
Vorräte nochmals ein und rechnete sich aus, daß er damit
noch
einige Wochen hinausschinden konnte. Trotz der
Hoffnungslosigkeit, trotz des Leichenplaneten vor seiner Haustür
klammerte er sich an das Bißchen Leben, das ihm verblieb. Er
trieb astrononische Studien. Der Mond, dem jegliche flimmernde
Lufthülle fehlte, war hierzu der ideale Standort schlechthin. Und
im Verlauf eines Monats durchlief er einmal den Tierkreis, einmal
den kompletten Sternenhimmel. Stunde um Stunde verbrachte er am
Teleskop. Sternkarten und Computerbilder nahm er zu Hilfe,
Erscheinungen zu identifizieren. Und er fand weitere Objekte, die
in keiner Karte bisher verzeichnet waren. Die Frage, wem das
jetzt noch nützen solte, unterdrückte er. Lebte absolut dem
Augenblick und verbiß sich in Beobachtungen. In der Mitte des
fünften Monats schnürte er den Gürtel noch enger und
aß nur alle
zwei Tage. Dafür trank er Unmengen Wasser. Seine Augen bekamen
einen fiebrigen Glanz. Die Hand zitterte, die das Okular
einstellte. Aber er blieb und rang dem Leben weitere Tage ab.
Als nur mehr eine Handvoll kostbarer Nahrung übrig war, geschah
das Unbegreifliche. Zuerst glaubte er, Hungerphantasien zu
erliegen. Auf einer der Rundumkameras bewegte sich was. Was
konnte sich auf dem toten Mond außer ihm bewegen? Nicht einmal
der kleinste Wind wirbelte Staub auf. Doch da kam etwas auf die
Station zu, etwas, das Arme, Beine und einen Kopf besaß. Ein
Mensch? Außer ihm gab es keinen Menschen auf Luna. Und daß
seine
Kameraden alle fort waren, dafür mochte er sich verbürgen.
Seine
Kameraden ... ob sie dort drüben noch lebten? Er schüttelte
heftig diesen depremierenden gedanken ab, den er bei seiner
jetzigen schwächung nicht gebrauchen konnte. Und die unglaubliche
Erscheinung dort draußen kam immer näher, wurde in ihren
Details
deutlicher. Jetzt sah er, daß sie unter ihrem Raumhelm ein
menschliches Gesicht hatte. Und welch ein Gesicht! Es war das
Gesicht einer Frau. Eine Frau auf Luna. Das war aber nun was ganz
Neues. Nie wurde gehört, daß eine Mission eine Frau an Bord
hatte. Das war erst nach Vollendung der komfortablen Raumstation
geplant. Aber dort draußen nahte - nun schon bis auf wenige
Schritte - ein verdammt hübsches Weib der Basis. Er sank zurück
und grub das Gesicht in die Hände. Dann meldete sich die
Sprechanlage.
"Ich bringe Nahrung", lächelte die Frau und stellte
merkwürdig
geformte Behälter auf den Tisch.
"Woher wußten Sie ... und wer sind ..."
"später. Erst essen Sie mal, damit Ihr Kopf keinen schaden
leidet."
Wie ein Wolf machte er sich über die Mitbringsel her. Er aß
nicht, er fraß. Es schmeckte zwar ungewohnt, aber es war
durchaus genießbar. Sie zapfte derweil Wasser, rührte ein
Pulver hinein und stellte ihm den Becher hin. Dann trank er.
Und was er trank, hätte das bestgebrauteste Bier sein
können, wenn sie nicht zufällig auf dem Mond wären und
die
Frau es aus Wasser und einem seltsamen Pulver erzeugt hätte.
Und jetzt, wo er gesättigt war, betrachtete er sich diese
Frau eingehender. Ohne Zweifel war sie ein Mensch, hatte
humanoide Formen, Benehmen und Stimme. Auch sprach sie zu
ihm in durchaus sauberem Englisch.
"Hmmm, entschuldigen Sie meine Neugier. Aber darf ich erfahren,
woher Sie kommen?"
Sie zeigte blendend weiße Zähne und lächelte:
"Später. Ich muß erst dafür sorgen, daß
ihr Überleben für
die nächste Zeit gesichert ist."
Damit klappte sie den Helm zu, huschte in die Schleuse und
erschien gleich darauf auf dem Monitor. Dann - ach du liebe
Zeit - hob sie mehrere Meter vom Mondboden ab und jagte in
einem irren Tempo davon. Es verging keine halbe Stunde, bis
sie am Horizont wieder erschien. Sie flog in gleicher Weise
auf ihn zu, wie sie davongeschossen war. Aber sie hatte
einen großen Behälter im Schlepp. Den parkte sie vor der
Schleuse, verlud den Inhalt und forderte ihn auf, ihr beim
Beladen des Vorratsraums zu helfen.
"Lebensmittel für mehr als ein Jahr", strahlte sie.
Er begriff es nicht. Er begriff überhaupt nichts mehr und
kniff sich heimlich ins Fleisch, um endlich aus diesem allzu
schönen Traum zu erwachen.
Bröckchenweise ließ sie sich darüber aus, wer sie war.
So
unglaublich es klingen mochte, ihre Abstammung war humanoid,
wenn auch nicht irdisch.
"Haben denn Menschen vor uns bereits den Weltraum
besiedelt?", fragte er erstaunt.
"Umgekehrt wird ein Schuh draus", schmunzelte sie. "Unsere
Spezies hat bei der Menschwerdung ein wenig mitgeholfen."
"Ach ja", winkte er ab. "Die alte Leier von den
hyperintelligenten Wesen aus dem All, die den Affen von den
Bäumen halfen. So ein verrückter Schweizer, ich glaub
Däniken hieß er, faselte Bücher lang von der Theorie,
die
sogenannten Götter kämen aus dem Weltraum."
"So? Schrieb er das?"
Mit flinken Händen räumte sie die leeren Behälter in
den
RecykleTank.
"Weißt du, manchmal sind Verrückte wunderbar hellsichtig.
Unsere Vorfahren wurden tatsächlich damals wie Götter
verehrt. Und steht nicht in einem Eurer religiösen Werke,
daß sich die Göttersöhne irdische Töchter zur Frau
nahmen?"
"Nichtssagende Mythen", tat er das ab. "Es steht viel
in der
Bibel, was heute keiner mehr glaubt."
Weißzahniges Lächeln von ihr:
"Und das gerade hättet Ihr wörtlich nehmen sollen."
Hierauf erzählte sie ihm von einer ausßerirdischen Siedlung
auf der Landbrücke zwischen Europa und Amerika.
"Guck durchs Teleskop", forderte er sie auf. "Da ist
keine
Verbindung."
"Heute nicht mehr", gab sie zu. "Sie bestand aber. Ging
bei
einer kosmischen Katastrophe unter. Was Ihr Azoren nennt,
sind die Überreste von damals."
"Deine Leute gingen unter?"
"Die meisten. Aber wir hatten uns bereits so sehr mit Euch
vermischt, daß wir indirekt weiterlebten."
Er stand auf und ging sinnend auf und ab:
"Aber Euer enormes Wissen. Wo blieb das? Unsere heutigen
Kenntnisse haben wir uns mühsam erarbeiten müssen."
"Das Wissen verlor sich", gab sie zur Antwort. "Eine
Weile
noch wurde es als Geheimwissenschaft tradiert. Aber da es
keine praktische Anwendung mehr fand, wußten immer weniger
was damit anzufangen."
"Ja", brummte er nachdenklich. "So ist das zu erklären.
Aber
du? Wo kommst du denn auf einmal her?"
Ihr erdähnlicher Planet lag in einer Sonne nahe dem Polarstern
Polaris. Es war ein bescheidener Stern, jünger als die Sonne.
Aber die Bewohner dieses blauen Planeten waren bereits vor einigen
millionen Jahren im Besitz enormen Wissens. Sie entwickelten und
perfektionierten die Raumfahrt. Ihre Schiffe mit
überlichtschnellem Antrieb erkundeten den galaktischen Sektor und
stießen auch bald auf das Sol-System. Sie freuten sich, einen
Planeten ausfindig gemacht zu haben, der dem ihren ähnelte. Und
sie beschlossen, auch hier den Keim des Bewußtseins zu pflanzen.
Auf dem Trabant dieses Planeten errichteten sie eine
Forschungsstation. Sie platzierten sie auf der dem Planeten
abgewandten Seite und behielten Terra im Auge.
"Und diese Station existiert noch?"
"Erraten", gab sie lachend zu. "Ich bin ihre derzeitige
Besatzung."
Kopfschütteln.
"Man läßt eine Frau jahrelang allein auf einer Station."
"Du denkst in irdischen Vorstellungen. Bei uns sind Frauen
weit höher geachtet als bei Euch. Ich hab Zeit gehabt, Euch
zu studieren. Euer Fernsehen gab Zeugnis von Eurer
abgrundtiefen Barbarei."
"So? Schade, daß ich nicht Eure Fernsehprogramme betrachten
kann."
Er stapfte unzufrieden umher. Einerseits mochte er diese
Fremde, der er sein Weiterleben verdankte. Andererseits ging
ihm ihre Überrheblichkeit fürchterlich auf den Keks.
"Wielange studierst du uns den schon?", wollte er wissen.
"Mehr als drei irdische Jahrhunderte."
"Wie bitte?"
Er schlug sich vor die Stirn.
"Dann bist du ja steinalt."
"Wenn du das so sehen willst."
"Moment", fiel ihm ein, "wenn ich dich richtig verstanden
hab, unterscheidet Ihr Euch genetisch nur unwesentlich von
uns. Wieso habt Ihr denn ein so unendlich längeres Leben als
wir?"
"Ach - du stellst Fragen", seufzte sie. "Unsere
Wissenwschaften sind doch nicht stehengeblieben. Wir haben
das Langlebigkeits-Gen entdeckt und wenden es mit Erfolg an.
Das ist alles."
"Und so was mir", jammerte er, "der den Untergang seiner
Spezies geradewegs vor Augen hat."
"Tja", meinte sie lakonisch. "Das ist nun mal die Strafe
für
bodenlose Dummheit."
Damit verschwand sie und ließ sich einige Wochen nicht
blicken.
Sie räkelte sich neben ihm auf dem Lager und er streichelte
ihren Vier-Zehen-Fuß.
"Den kleinen Zeh hat die Evolution verschlampt, weil wir
Jahrtausende hindurch nur schwebten statt liefen", erklärte
sie. "Noch ein paar Jahrtausende weiter und wir haben keine
Füße mehr."
Er drückte ihr einen Kuß darauf:
"Um Himmels Willen! Nur das nicht. Nie hab ich so hübsche
Frauenfüße gesehen."
Sie lachte:
"Noch sind sie ja da und werden dir bleiben."
Sie streckte sich nach ihm und drückte ihn an sich:
"Wollen wir nicht in meine Station umziehen. Dort haben wir
mehr Platz und Bequemlichkeit."
Trüb schüttelte er den Kopf:
"Ich will den Blick auf meinen Heimatplaneten nicht
verlieren.
" "So sehr liegt dir daran?"
"Ja. Und ich wünschte, ich könnte dort hinauf, um dort
zu
wohnen."
"Aber die Radioaktivität. Sie wird dich umbringen."
Seine Augen wurden feucht:
"Das wär mir egal."
Wie ein Kind nahm sie ihn in ihre Arme und gab sich ihm hin
wie eine Frau. Dann richtete sie sich auf:
"Wenn dir so viel daran liegt, will ich etwas für dich tun."
Sie blieb länger als einen Monat fort. Dann sah er plötzlich
ein Raumschiff von der Rückseite des Mondes kommend der Erde
entgegenrasen. In immer engeren Spiralen umrundete das
Schiff den Planeten von Pol zu Pol. Das dauerte über eine
Woche. Durch Teleskop verfolgte er den Flug. Wurde aber
nicht klug daraus, was das zu bedeuten hatte. Dann kehrte
das Schiff zurück und landete auf der Plattform nahe seiner
Station. Sie stieg aus und schwebte ihm eilig entgegen.
"Hab noch ein paar Monate Geduld, dann kannst du auf die
Erde zurückkehren."
Er verstand gar nichts, was sie zu ignorieren schien.
"Ich bin schwanger", flüsterte sie ihm eines nachts
ins Ohr. "Wir
bekommen ein Mondkind."
Er geriet vor Entzücken total aus dem Häuschen.
"Ein neuer Erdenbürger", jubelte er. "Oder kehren
wir nicht
auf die Erde zurück?"
"Doch Liebster. Wir kehren zurück, die Menschheit neu und
besser aufzubauen. Du - Adam und ich - Eva."
(c) HE 20 Juli 1999
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