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Simon Croll


Königin der Nacht

(Bildergeschichten)

1369 Wörter

Im Dorf gibt es nur den einsamen Biergarten, also fahre ich in die Großstadt. Morgens hatte ich in der Tageszeitung von einer „brasilianischen Nacht“ gelesen, die in K., genauer: in den „Gewölben“ K.’s gefeiert werden sollte, „mit allen Überraschungen, die zu einer südamerikanischen Nacht gehören!“ So stand es da, und das verlockt ein Fotografenherz..


Eine Stunde später stehe ich da mit meinem Auto und suche vergeblich nach einer Abstellmöglichkeit. Die Stadt gehört den Anwohnern mit Parkausweis. Ich ziehe immer größere Kreise um die Feierstätte, um schließlich in einer Art Vorort K’s ein Plätzchen zu finden. Nun, es ist ein lauer Sommerabend, und so ein kleiner Fußmarsch ist recht angenehm, zumindest während der ersten halben Stunde.


Unter „Gewölbe“ hatte ich mir etwas ausgemalt, das dem Prätorium wohl recht nahe kam: Eine geheimnisvolle Welt, in denen der Geist alter Herrschaft immer lebendig bleiben wird. Auch in diesen unterirdischen Statthalterpalast aus römischen Tagen gelangt man schließlich nur durch ein unansehnliches Parkhaus. Dann aber erschließt sich dem Besucher eine versunkene Welt! - Hier jedoch, in dieser verkehrsberuhigten Zone der Stadt, gibt es zwar auch den unansehnlichen Eingang, aber dahinter und darunter zeigt sich statt versunkener Größe nur vergammelnder Dreck. Meine Kamera bleibt im Rucksack und erspart sich die Bilder vom Gittertor, das die Einfahrt zum Hinterhof ab Mitternacht versperrt, von den dreirädrigen Kinderwagen und den Halogenscheinwerfern, die locker im Hof verstreut wurden und aus einer Kabeltrommel gespeist werden. Im Sperrmüll hinten findet sich obenauf ein Rattanschaukelstuhl, der vielleicht in mein Zimmer - da fällt mir ein, daß ich vor zwei Jahren ein solches Möbel höchstselbst an den Straßenrand gestellt habe. Bei der Mülldurchforstung finde ich jedoch den Eingang zum Gewölbe, etwas versteckt ist er schon. Na ja, der Kellereingang eben. Im Treppenhaus riecht es muffig bis streng. An jeder Kehre fordern handgemalte Plakätchen das Publikum auf, nicht zu lärmen und nicht zu rauchen und sich im Hof nicht zu laut zu unterhalten.

Der Programmzettel für die brasilianische Nacht hängt auch da: Viel Kleingedrucktes, ich will’s später studieren. Nirgends exotische Früchte, niemand bietet mir Kokoslikör an, zum Glück, denn ich hasse Kokos. Aber ganz unten, neben der Heizung, findet sich eine Art Kasse. „Hast du reserviert?“ Ich gucke etwas reserviert, denn ich bin der dritte im Bunde. Ist wohl ein Insidertreff, und ich bin mal wieder hoffnunglos zu früh. „Dann setz ich dich auf die Warteliste“, erklärt der schüchterne junge Mann, während er über einem leeren Blatt meditiert und nicht recht weiß, was er da jetzt schreiben soll. Er schreibt tatsächlich „Warteliste“ oben drauf. Sonst nichts. Ein anderer junger Mann kommt hinzu und erklärt, Anja käme heute ohne Iris, da wäre doch eine Karte frei. Meine Konkurrentin neben mir ist schneller und reserviert sich schon mal eine Karte, obwohl sie drohend darauf aufmerksam macht, daß sie keinesfalls beabsichtige, allein da hineinzugehen. Sie hatte auch nicht reserviert. Jetzt kommen zwei reservierte Damen und dürfen nach kurzer Kontrolle auch hinein.

Die schwarze Stahltür wird geöffnet, und ich will einen kurzen Blick ins Gewölbe erhaschen, sehe aber nur schwarz. Hören kann ich, wie eine hohe, aufgeregte Männerstimme erklärt, daß man bitte nur den Gummiteppich betreten solle, den roten, und keinesfalls die Tanzfläche. Das wird er in der nächsten halben Stunde noch mehrmals wiederholen, immer aufgeregt. Ich stelle mir den Rufer sehr schlank vor. „Jochen kann auch nicht kommen“, erklärt eine gewisse Susanne. Ich kriege Jochens Karte und darf hinein. „Geh bitte nur über den roten Teppich, jaa?“ Ja. Ich weiß.


Im Bergischen gibt es sehr lauschige Gewölbekeller: Bruchstein überall, schwere Tische, selten Bierkrüge.... Dies hier ist ein überwiegend weiß gekalkter Keller mit einer Decke, die von rostigen Stahlträgern und einigen stählernen Säulen getragen wird. Dabei bilden sich Gevierte in der Decke, die andeutungsweise gewölbt sind. An den Wänden bröckelt der Putz und zeigt rostrotes Mauerwerk. Eine Wand wurde kürzliche erneuert. Man malte mit großem Geschick rostrotes Mauerwerk und Putzlöcher auf. Es muß einmal Fenster gegeben haben, bevor man sie zugemauert hat.

Ein paar Stühle, Sessel, Hocker, Sofas, Barhocker, Klappstühle und Liegestühle stehen in einem undurchsichtigen Muster in der hinteren Hälfte des Raumes. Eine Theke, ein Klavier, die Tanzfläche. „Bitte nur über den roten Teppich!“ Er ist tatsächlich schmächtig, der junge Mann. Erste Zweifel beschleichen mich: Diesen Raum sollen ein paar begnadete Musiker und hocherotisch dekorierte Tänzerinnen binnen kurzem in einen tropischen Hexenkessel verwandeln? Ich sehe mir meine Eintrittskarte noch einmal an, auf der „Eintrittskarte“ steht und für die ich 9 €(ermäßigt) bezahlt habe: Dochdoch, die schaffen das! Die müssen das schaffen!

Die Wartezeit verkürze ich mit der Beobachtung der Eintrittsrituale: „Verunsicherung - Orientierung - Präsentation - Landnahme“: der Single-Visitor. Oder aber „Expreßorientierung - Präsentation - Erkennen - Küßchen - Eingliederung“: Insider, einzeln oder als Paar.

Das geht so eine Weile, bis das Muster unterbrochen wird. Auftritt eine ältere Dame, deren Mimik rheinischen Frohsinn ausstrahlt. Vielleicht verkauft sie nachmittags Obst auf der Schildergasse. Sie kommt in langem schwarzem Spitzenkleid, ausgeschnitten bis dort hinaus. Niemand sagt ihr, wo sie zu gehen habe, man geleitet sie, so gut es geht - das Kleid ist raumgreifend breitund paßt nur mit Mühe durch die Stahltür. Erschwerend kommt hinzu: Die Dame hinkt auffallend. Doch daß sie die Königin dieser Nacht ist, weiß jeder der Höflinge. Sie nimmt nicht einfach Platz im Zuschauerraum; sie thront ganz vorn links,neben der Theke, nah bei den kleinen Boxen. Sie hat tatsächlich ein Zepter bei sich, einen federgeschmückten, bunten Holzstab, bestimmt einen knappen Meter lang und am Ende kugelig verdickt. Diesen Stab trägt sie mit der Würde, wie man sie in den alten Winnetoufilmen beobachten konnte, als man sich das Kalumet reichte zum Zeichen dauerhaften Friedens.

Ich habe gar nicht gemerkt, daß die Musik inzwischen begonnen hat. Ganze zwei (2) Gitarren, die etwas improvisieren, was mir nicht viel sagt, außer vielleicht: Den Hexenkessel kannst du vergessen. Ananaszauberein, Feuerwerk und brüsteschüttelnde Jungfrauen wird’s auch nicht geben, ich weiß schon. Einen (1) braunen Tänzer hat’s noch, und was der so schüttelt, will ich so genau gar nicht sehen - ich bin im falschen Film. Ich schäm’ mich so.


Aber der Herrin erzählen die beiden Gitarristen offensichtlich eine Menge geheimnisvoller Geschichten, auf die sie kommentierend eingeht, indem sie das Zepter rhythmisch rührt oder schüttelt, als sei es ein Zeigestock für Taubstumme. Doch ich bin hier der, der nichts hört und nichts versteht am Hofe. Ich kann den Blick nicht von ihr wenden. Sie schält sich fast aus ihrer Spitzenmasse heraus und kriecht in die Musik hinein, spielt auf dem hölzernen Freund die dritte Gitarre, streichelt, bezupft und bespricht ihn, wiegt ihn auf den Armen wie ein Kind. Die Schuhe hat sie ausgezogen, die nackten Füße starr vor sich hingestreckt, aber alles andere an ihr ist in einer ständigen Bewegung. Auch die roten Ohrgehänge, spitze Korallen. Bewegung und Bedeutung, die ich nicht entschlüsseln kann. Voodoozaubervorstellung in kleinem Kreis? Ein Musikdildo, festlich geschmückt? Irgendwo in K. verröchelt jetzt vielleicht gerade jemand, oder stöhnt er aus anderen Gründen? Ich spüre meinen Magen.


Erst jetzt bemerke ich die resolute Dame in Knallrot, die hinter der Königin wacht und prüfende, schützende Blicke durch ihre Hornbrille entläßt. Auch mich hat sie im Visier. An ein Foto wage ich unter diesem Blick nicht zu denken. Ist sie die eigentliche Herrscherin oder nur die Zofe? Sie nippt erst an ihrem Wasser, als die Königin in eine tiefe Versunkenheit fällt. Die Füße starren weiterhin nackt zur Bühne.


Einige der Zuhörer haben ihre Stühle verlassen und setzen sich auf den Boden vor der Tanzfläche. Einige erkenne ich plötzlich wieder. Es sind eindeutig Reinkarnationen: Da ist die Hagere mit dem ganz bewußt hellgrau belassenen Kurzhaarschnitt und dem Schlabberpullover, den man ganz sorgfältig zusammenlegen muß, damit man das Schildchen hinten drin noch sehen kann. Die kenne ich aus der Gemeindearbeit in L. Da sitzt ein Pärchen, das ganz bewußt seine lesbischen Neigungen auslebt und auch schon mal mit Tatoos experimentiert hat. Die kenne ich aus dem Fernsehen. Und dann kommt auch noch Herbert in den Saal, überhaupt nich reinkarniert, sondern im Original.

Es wird mir zu eng und zu warm. Ein kleiner Fußmarsch wird mir jetzt gut tun.
Beim Griechen gegenüber dreht sich hinter fettigbraunem Glas der Fleischspieß. Lammfleisch, bestimmt nur Lammfleisch.

Sonntags ist bei uns immer Grillabend im Biergarten. Vielleicht sollte ich da einmal hingehen.

© S.Croll 2003

 



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