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Hanno Erdwein

BEIM ONKEL LEO

Im Heu

Sattes, zufriedenes Brummen kommt aus dem Kuhstall. Leicht klirren Ketten, wenn sich eines der Tiere erhebt, um ein Maul voll Heu aus der Raufe zu holen und gemächlich kauend den verlassenen Platz wieder einzunehmen. Vom Heuboden blickt Alex durch die Futterluke auf die schwarz- und braunweißen Rücken, die in steter Bewegung befindlichen Ohren und in die sanften Augen der Tiere. Besonders die beiden Kälbchen haben es ihm angetan mit ihren warmen seidenweichen Mäulchen. Vorgestern noch standen ihre Mütter auf der Weide vorm Haus und ließen sich mit den anderen zwölf Kühen das saftig grüne Sommergras schmecken. Bis am Nachmittag der älteste Nachbarjunge den Hügel herauf gerannt kam und mit seinem Geschrei den Hof alarmierte. Daraufhin entstand eine hektische Geschäftigkeit. Tante Margret stürzte in die Küche, heißes Wasser zu bereiten. Toni und Klaus, Onkel Leos älteste Söhne holten die trächtigen Kühe von der Weide und trieben sie in den Stall, wo der Onkel mit Lederschürze, aufgekrempelten Hemdsärmeln und tatendurstigem Blick bereitstand. Zu seinem Jammer wurde Alex die Stalltür vor der Nase zugesperrt. Erst nachdem alles vorbei war und die Kälbchen auf wackligen Beinchen das Euter der Mutter suchten, durfte er einen kurzen Blick in den Stall werfen. Gern wäre er hinabgesprungen mitten unter die warmen Leiber, um sich an das rauhe Fell der Tiere zu schmiegen und ihre Gegenwart zu spüren. Aber Onkel Leo hat ihm streng verboten, in den Stall zu gehen. "Du machst mir die Tiere jeck und dann geben sie nicht mehr genug Milch", lautete sein knurriger Kommentar zu dem Verbot. Alex seufzt. Alles was Spaß macht ist nicht erlaubt. Auf Händen und Füßen krabbelt er durchs raschelnde Heu zurück auf die Leiter, gleitet rutschend daran hinab und springt in die Julisonne hinaus. Außer ein paar im Sand dösenden Hühnern wirkt der Hof verlassen.

Lange schon hatte er sich gewünscht, in den Sommerferien einmal mit nach Kurscheid fahren zu dürfen. "Wenn Du ein bißchen größer bist", hatte Mutter getröstet, ihren Filius nachdenklich angeblickt und zweifelnd gemurmelt: "Weiß auch gar nicht, ob das für Dich interessant sein wird." Gab ihm Papier und Bleistift und lächelte: "Dann mal doch einmal, wie Du Dir einen Bauernhof vorstellst." Und Alex zeichnete Kühe, Hühner, Schweine. Das spitze Dach bekam einen Wetterhahn. Der Bauer trug kurze Hose. Und die Bäuerin hatte ein Tuch um den Kopf. "Gar nicht schlecht", lobte Mutter. "Du magst Tiere?" Alex braunes Kraushaar wippte unter heftigem Nicken. "Nächstes Jahr", versprach Käthe Palme. "Und so ein Jahr geht rasch herum."

Für Erwachsene mag ein Jahr vielleicht dahineilen. Ein Kind, besonders, wenn es auf etwas warten muß, seufzt bei den endlos erscheinenden Wochen und Monaten. Aber dann war der ersehnte Sommer da. Der Kleine half Mutter rotbäckig vor Aufregung beim Kofferpacken. "Der muß auch mit!" Hielt Petz hoch. "Klar geht Dein Teddy mit." Sie räumte ihm einen besonders weichen Platz zwischen Strümpfen und Unterhemden ein. Da standen nun zwei recht schwere Reisebehälter im Flur. "Und Dein Koffer?" Alex sah seine Mutter groß an. "Ich fahr doch nicht mit, mein kleiner Liebling." Das Kind zog ein Mäulchen. "Warum denn nicht?" Sie strich sanft sein Haar zurück. "Guck mal. So viel Platz ist bei Onkel Leo nicht." "Ich mach mich auch ganz schmal im Bett", versprach Alex eilfertig. Käthe lächelte gerührt. "Schau mal, ich muß doch ein wenig Geld verdienen. Wenn ich so lange fort bin, laufen mir die Leute fort." Seit gut einem Jahr nahm Käthe Schneiderarbeiten an. Sie saß oft bis spät in die nacht an der Nähmaschine und verdarb sich bei spärlichem Lampenlicht die Augen. Das kleine Zubrot hatten sie auch bitter notwendig. Sie griff nach dem Jungen und holte ihn sich auf den Arm. Noch war er leicht genug für solche Zärtlichkeiten. "Papa muß ja auch in den Ferien arbeiten", erklärte sie, ihr Gesicht in Alex Wuschelkopf vergraben. "Für ihn ist das auch keine Erholung. "Papa muß auf dem Bauernhof arbeiten?" Sie lachte: "Nein, Du Dummchen. Er zieht über die Dörfer. Stimmt und repariert Klaviere." Das kennt Alex. Vor Weihnachten hatte Papa das Klavier in der Schule repariert und Alex durfte zugucken. Käthe stellte ihren Kleinen wieder auf den Boden. "Komm, Du mußt Dich anziehn."

Dann holte Onkel Erdmann die Koffer ab und rollte sie mit der Karre zum Bahnhof. Zugfahren war für Alex immer ein Erlebnis. Die Lok paffte beeindruckend viel graugelben Rauch. Überall zischte es. Ratter-Ratter ging es über Weichen aus dem Bahnhof hinaus und durch die Vorstadt. Dann kamen Felder, die grüngold mit Getreide prangten. Nah eilten Masten vorbei. Fern drehte sich ganz langsam die Welt. Der Kleine machte die Augen ganz groß, um ja nichts zu versäumen. "Wann sind wir bei Onkel Leo?" Vater schmunzelte: "Das dauert noch ein wenig. Erst müssen wir durchs Kerbelgebirge." Und da war es auch schon. Winterschlag ist hügelig. Dauernd geht es dort irgendwo bergauf oder bergab. Aber Berge im eigentlichen Sinn gibt es ringsum nicht. Die beginnen erst gut dreißig Kilometer südlich am Oberlauf der Schlag. Und jetzt mußte man tüchtig den Kopf in den Nacken legen, bis man droben die felsigen Gipfel sah. Beim Anblick solch hoher Berge schauderte Alex zurück. "Wohnt Onkel Leo da oben?" Sein Vater beruhigte ihn: "Nein. Der Hof Deines Onkels steht zwar auf einem Berg. Aber der ist nicht höher als unsere Veithgasse." Und dann wollte der Kleine noch etwas wissen: "Mama sagt, da gibt es eine Grenze. Was ist das?" Matthias Palme sah sich vor die Aufgabe gestellt, seinem Sprößling zu erklären, daß es ein Nebeneinander von recht unterschiedlichen Völkern gibt, die sich voreinander mit Grenzen abschirmen müssen. Wie bringt man einem nicht ganz Sechsjährigen bei, daß Grenzen einen Sinn haben, ohne in dem jungen Weltbild allzuviel an Vertrauen in die Menschheit zu zerstören. Er seufzte und machte sich an dies mühsame Werk. Alex hörte aufmerksam zu. Spannend wurde es, als Papa vom Schmuggel zu erzählen begann. Schmuggler mußten demnach ganz tolle Kerle sein. Bei Nacht und Nebel mit einem Sack überm Rücken durch dunklem Wald die Grenze zu passieren. Mann! Das war schon ein Abenteuer. So flogen die Stunden für Alex recht unterhaltsam dahin. Sein Vater wischte sich den Schweiß von der feuchten Stirn. Und schon rollte der Zug in den winzigen Bahnhof von Großmauenheim. "Ah!", rief Vater erfreut. "Da steht Dein Onkel." Leo wartete bereits mit dem Pferdegespann. Auch ein ganz besonderes Erlebnis, mit Pferd und Wagen dahinzukutschieren. Zu dritt saßen sie vorn. Alex durfte auch mal den Zügel halten. Es ging ein wenig mit Rumpeln über
schlecht gepflasterte Straßen und Wege. Aber es machte Spaß. Und Tante Margret empfing sie mit Broten und kuhwarmer Milch.

Vor dem Wohnhaus regt sich nichts. Der Junge hockt sich auf die Bank, zieht die Beine an und stützt das Kinn auf die Knie. Sein Blick schweift hangabwärts über die Weide. Da und dort bunte Flecken, die Kühe, die sich auf die wenigen schattigen Plätze zurückgezogen haben und gemächlich wiederkäuen. Rechts vom Weideland der steile Weg, der auf die Dorfstraße hinabgeht und an dem rußigen Gemäuer der Schmiede vorüberkommt. Die Schmiede, ein Ort, der die Phantasie des Jungen stets von neuem beflügelt, seit dem Tag, als Schulzes Brauner neue Hufeisen bekam. Großäugig hockte Alex im Schatten der Werkzeugkiste und ließ sich keinen Handgriff entgehen. Klaus und Toni unterhielten Das Kohlenfeuer und fachten es immer wieder mit dem Blasebalg an, bis das Eisenstück, das Onkel Leo an langer Zange hinein hielt, hellrot glühte. Darauf trug er es zum Amboß hinüber und bog und formte es unter kräftigen
funkenstiebenden Hammerschlägen zu einem Hufeisen. Dann ging er mit dem noch mattglühenden Metall nach nebenan und hielt dem Braunen das Eisen an den hochgebundenen Huf. Beizender Gestank nach verbranntem Horn durchzog die Schmiede. Alex wartete auf eine Schmerzensreaktion des Pferdes. Doch das Tier stand weiterhin friedlich in der Box, steckte den Kopf in den vorgebundenen Futtersack und ließ alles ruhig mit sich geschehen. Die Prozedur des Anpassens, erneuten Glühendmachens, Zurechthämmern und wieder Anpassen ging solange weiter, bis der Onkel zufrieden brummte: "Sitzt". Auf seinen Wink hin reichte ihm Toni Hammer und Nägel, und während die Söhne die Glut für ein weiteres Stück anfachten, klopfte ihr Vater das fertige Eisen an den hornigen Fuß des Tieres. Allen lief der Schweiß in Strömen übers verrußte Gesicht. Die ärmellosen dünnen Wollhemden trieften vor Nässe und mit dem Kohlen-, Horn- und Schwefelgestank vermischte sich der Geruch nach saurem Schweiß. All das störte den aufmerksamen Zuschauer nicht. Für ihn war das alles neu und aufregend. Auch der Brunnen, den er in einer Ecke der Schmiede entdeckt hatte, zog ihn magisch an. "Fall mir da bloß nicht rein", warnte ihn Toni und zog ihn am Hosenträger zurück. Alles, was interessant und aufregend war, war nichts für Kinder und alle erschienen ihm so fürchterlich erwachsen. Seine drei Vettern, Toni, der älteste, war achtzehn, Klaus siebzehn und Hubert fünfzehn, spielten längst nicht mehr mit ihm, wenn er zutraulich ein Spielzeug zu ihnen hintrug. Sie hatten zu tun und mußten entweder in den Stall zum Heuboden oder aufs Feld. Auch seine sechzehnjährige Cousine Erna war dauernd beschäftigt. "So ein Bauernhof macht sich nicht von allein", erklärte ihm Tante Margret die Hektik. "Da müssen alle ran. Jede Hand wird gebraucht." Nur seine kleinen Hände kann niemand brauchen. Alex seufzt. Mit hocherhobenem Schweif kommt Mauz, der schwarze Kater und ungekrönte König des Hofs auf langen Beinen daherstolziert. Der Junge hat es sich längst abgewöhnt, ihn streicheln zu wollen. Mauz dankt derartige Annäherungsversuche mit scharfen Krallen. Zielstrebig steuert er auf den Stapel Buchenscheite an der Hauswand zu und wirft aus grünen Augen nur einen verächtlichen Blick auf das Kind, bevor er nach elegantem Sprung auf dem
sonnendurchwärmten Holz landet und sich gähnend darauf ausstreckt. Niemand da. Alle ausgeflogen einschließlich Fips, dem Hofhund, mit dem Alex zur Not noch hätte spielen können. Der Onkel war mit den beiden Ältesten in die nächste Kreisstadt gefahren, Ferkel kaufen. So war das schon gestern beim Abendbrot ausgemacht. "Sieben milchende Kühe und noch ein guter Resst Kartoffeln vom letzten Jahr, da lohnt es schon, Ferkel zu mästen." Onkel Leo hatte erwartungsvoll in die Runde geblickt und sich schließlich an seinen älteren Bruder gewandt. "Was meinst du, Anton?" Der schien erst mal aus weiter Ferne zurückzukehren, nahm die Pfeife aus dem Mund und fragte: "Wie?" "Mit der vielen Milch und all den alten Kartoffeln läßt sich doch gut Ferkel mästen, oder?" "Jo, müßte gehn", brummte Tonis Patenonkel wortkarg, nahm seine Krücken und humpelte aus der Küche. Aber das störte Onkel Leo keineswegs. Er wußte, daß sein Bruder mit allem einverstanden war. Er mußte letztenendes einverstanden sein; denn er war der Erbe. Seine Kriegsverletzung, die ihn zum Krüppel gemacht hatte und die Tatsache, daß er unverheiratet blieb und keine Nachkommen hatte, all das änderte nichts an dem patriarchalischen Prinzip, daß der Hoferbe das Sagen hat. "Gut", Onkel Leo blickte nochmals in die Runde und ließ den Blick ein Weilchen länger auf seine beiden Ältesten ruhen, "gut also, dann fahren wir morgen nach Hornstett." Mehr brauchte er nicht zu sagen. Für seine Söhne hieß das, früher als sonst aus den Betten und den Fuchs vor den Wagen gespannt, für Tante Margret, vor dem Schlafengehen Brote streichen und die Thermosflaschen mit Kaffee füllen. Und so kam es, daß Alex morgens um fünf vom Hü-ho und
Räderknirschen geweckt wurde. Er sprang aus dem Bett und zum Fenster hin und sah den Leiterwagen samt Onkel und Vettern den Hang abwärts rollen. Und als im Verlauf des Vormittags auch noch Hubert aufs Rad stieg und fortfuhr, Erna zur Bushaltestelle trabte, um zeitig zur Hauswirtschaftsschule zu kommen und dann auch noch Tante Erna mit Hacke und Spaten auszog, im Garten endlich mal wieder Ordnung zu schaffen. Und als sich zuletzt auch noch Fips der Tante schwanzwedelnd anschloß, stand es fest, daß es für ihn wieder ein recht einsamer Tag werden würde. Ein scharfer Pfiff kommt von der Dorfstraße herauf. Eine kleine Gestalt steht dort und winkt zum Haus hinauf. "Lud!" Im Nu ist Alex auf den Beinen und prescht trotz strengen Verbots quer über die Weide zur Straße hinab. Lud heißt eigentlich Ludwig und ist gut ein Jahr älter als Alex. Seine Eltern bewirtschaften den Hof auf der anderen Seite der Dorfstraße. Ein wohlwollendes Grinsen breitet sich auf seinem sommersprossigen Gesicht aus, während Alex mit einem Riesensprung über den Weidezaun setzt und außer Atem bei ihm Halt macht. "Wenn das der Onkel gesehen hätte." "Hat er aber nicht." "Kommste mit?" "Na klar, aber wohin?" Lud zeigt auf seinen Rucksack und die Tasche, die er Alex in die Hand drückt. "Essen aufs Feld bringen." "Wo sind die Deinen denn jetzt?" "Drüben bei Richthofen." "Oh jeh, das ist aber weit zu laufen." "Ne knappe halbe Stunde." Sie machen sich auf den Weg. Zuerst geht es quer durchs Dorf, wobei sie hin und wieder stehenbleiben, um ein paar Worte mit den Einheimischen zu wechseln. Fast an jedem Haus gibt es offene Fenster und Türen und Augen, die die Dorfstraße beobachten. "Wo ist denn dein Vater, Alex? Diese Frage muß der Junge mehr als einmal beantworten. Schließlich hat man beide vor gut einer Woche ankommen sehen. Und dann war Matthias Palme gleich am nächsten Morgen wieder in den Bus gestiegen. "Der zieht über Land Klaviere stimmen." "Klaviere stimmen?", Lud weiß mit dieser Auskunft nichts anzufangen. Alex macht es ihm vor. Dazu braucht er beide Hände und stellt erst mal die Tasche ab. Mit der Rechten mimt er die Hand, die mit dem Schlüssel die Wirbel dreht, um die Saiten zu straffen. Die Linke tut so, als klimpere sie auf den Tasten rum. Dazu gibt er die entsprechenden Laute von sich. Das wirkt so komisch, daß Lud sich vor Lachen kugelt. "Hör auf", keucht er, "ich mach gleich in die Hose!" Alex schnappt sich die Tasche und weiter gehts die staubige Straße entlang. "Ich geh schon ein Jahr in die Schule", erwähnt Alex, um nur etwas zu sagen. Das beeindruckt Lud kein Bißchen. "Pah, Schule!" Verächtlich wirft er die Lippen auf. "Lernt man ne Menge unnützes Zeug. Bei meinem Papa lern ich mehr. Der zeigt mir wie man melkt, wie man ein Feld pflügt, wie man nen Stall ausmistet. Das ist hundert mal wichtiger als Bücher lesen." Auf so schwerwiegende Argumente weiß Alex nichts zu erwidern und sie gehen ein Stück schweigend nebeneinander her. Plötzlich streckt Lud den Arm aus. "Da vorn ist die Grenze." "Müssen wir da rüber?", fragt Alex in freudiger Erwartung eines Abenteuers. "Nö, nur an dem Zollhaus vorbei und ein Stück den Weg an der Grenze lang." "Ach so. Und ich dachte, wir könnten was rüberschmuggeln." "Was willst du denn schmuggeln? Schokolade?" "Egal, nur irgendwas schmuggeln. An einer Grenze wird doch immer geschmuggelt." "Klar, bist du erwischt wirst und dann gibts ne saftige Strafe." "Was für Strafen bekommt man denn? Wird man in nen Kerker gesteckt, wo's so richtig finster ist und die Ratten zu Besuch kommen?" Alex Phantasie erwärmt sich an der Vorstellung. "Glaub ich nicht. Wirst wohl ne Menge Strafe zahlen müssen." "Aber wenn einer kein Geld hat, wird er doch ins finstere Loch gesteckt, oder?" "Vielleicht, vielleicht auch nicht." Lud winkt ab. Die Erörterung macht ihn nervös, zumal sie sich dem Zollhaus nähern und ein Grenzbeamter rittlings auf dem Schlagbaum platzgenommen hat und den beiden Kindern erwartungsvoll entgegen sieht. Während Lud starr vor sich hinblickt winkt Alex dem Grenzer zu. "Na, ihr zwei, wollt ihr rüber?" "Heute nicht", antwortet Alex keck, "aber später bestimmt mal." "Ah, dann willst du sicher unser schönes Land besuchen." Der Mann lächelt amüsiert und streicht sich mit zwei Fingerspitzen über den ausladenden Schnurrbart. "Ja, und ich will was schmuggeln." "Soso, so etwas willst du tun." Die Augen des Mannes beginnen bedrohlich zu rollen. Aber sein Mund lächelt nach wie vor wohlwollend weiter. "Ja", setzt Alex mutig fort, "ich will mal ein großer Schmuggler werden." "Hmmm", meint der Beamte nachdenklich und schiebt sein Barett aufs rechte Ohr, "dann mußt du aber noch viel essen, wenn du mal so ein großer Schmuggler werden willst." Seine Hand greift in die Tasche. Lud zuckt zusammen. Im Geiste sieht er schon sich und Alex an Handschellen ins nächste Gefängnis wandern. Doch der Grenzer holt weder Schellen noch eine Waffe aus der Tasche sondern Haselnüsse, mit denen er die Hände der Kinder reichlich füllt. "Damit ihr groß und stark werdet", meint er schmunzelnd und klopft jedem aufmunternd auf die Schultern. Alex bedankt sich artig, während es Lud die Sprache verschlagen hat. Auch traut der den Braten immer noch nicht und fürchtet Gott weiß was. Erst nachdem sie ein gutes Stück weit dem Feldweg entlang der Grenze gefolgt sind, meint er vorwurfsvoll: "Da haben wir noch mal Schwein gehabt." "Wieso?", will Alex erstaunt wissen. "Der hätte uns glatt kassieren können. Du und deine Schmuggelgeschichten, das hätte uns ins Loch bringen können." "Ach was, der Mann war doch nett." Zum Beweis läßt Alex eine Nuß auf seiner Handfläche tanzen. "Stimmt, nett war er. Aber er hat uns bestimmt aufgeschrieben und wird uns im Auge behalten." "Prima, dann bringt er uns sicher wieder Nüsse", freut sich Alex. An einer Bank machen die beiden Halt. Ächzend läßt Lud den Rucksack vom Rücken gleiten und reibt sich die wunden Schultern. Alex sucht sich einen flachen Kiesel und beginnt, eine Nuß nach der anderen aufzuklopfen. Er kaut genießerisch und meint: "schmecken gut. Zu Nikolaus sind auch immer welche in meiner Tüte." Lud läßt sich anstecken und macht es Alex nach. "schade, daß der Nikolaus nicht öfter kommt", nuschelt er nun ebenfalls mit vollen Backen. "Nüsse könnte ich jeden Tag essen." "Wo kommt der Nikolaus eigentlich her?", fragt Alex nachdenklich, "vom Himmel bestimmt nicht. Da wachsen keine Haselnüsse." "Ich dachte schon mal aus Amerika." "Könnte sein", stimmt Alex zu, "die schönsten Sachen kommen immer aus Amerika mit dem Flugzeug." So mutmaßen sie eine Weile weiter, während der Vorrat an Nüssen dahinschmilzt. Vom Westen her kommt leiser und sich nach und nach steigernder Motorenlärm. Ein Flugzeug zieht langsam über ihnen hin. Voller Hoffnung winken die Kinder hinauf, springen hoch und rufen: "Nikolaus bring uns Nüsse!" Vergebens. Ihr Rufen bleibt ohne Antwort, und die Propellermaschine brummt ungerührt weiter nach Osten und gerät außer Sicht.

Großvater Bahn rülpst verhalten und greift in die Jackentasche,  aus der er Pfeife, Tabakbeutel und Feuerzeug hervorholt. Während er die ersten gelblichen Rauchwolken aus schmalen Lippen entläßt, mustert er kritisch den Himmel bis zur Horizontlinie. "Müssen uns ranhalten", knurrt er, ohne den Pfeifenstiel aus dem Mund zu nehmen und zeigt auf die weißlichen Wolkenfetzen, die langsam über die Habichtsberge heraufziehen. "Stimmt", nickt Mattie Bahn, kaut hastig seine Schnitte zu Ende und gießt den Rest heißen Kaffees nach. "Gefällt mir nicht", meldet sich sein Vater erneut. Mattie folgt dem Blick des Alten, der nun besorgt auf den beiden Braunen ruht, die sich Mattie für die Heuernte vom Nachbarn ausgeborgt hat. "Sind doch kräftige Zugpferde", versucht er, die Bedenken des Familienoberhaupts zu zerstreuen. "Aber nervös wie ein Sack Flöhe. Scheuen vor jeder Fliege. Wenn das mal gut geht!" "Laß mal, Vatter. Nimm du die Ochsen und ich die Braunen." Der Alte wiegt seinen greisen Kopf und blinzelt. "Wenn's wenigstens noch die beiden Füchse von Leo wären. Die gehn ruhig an der Deichsel." "Hab ich auch schon überlegt. Aber Leo ist mit dem Wagen in der Stadt." "In der Stadt?" "Ja, Ferkel kaufen." Nun nimmt der Alte die Pfeife aus dem Mund und blickt seinen Sohn groß an. "Hab ich recht gehört? Hattest du Ferkel gesagt?" "Hab ich. Von der alten Kartoffelernte ist noch so viel übrig, um Ferkel damit zu mästen. Das ist gar keine schlechte Idee, Vatter, sollten wir uns auch überlegen." Energisch nimmt der alte Bahn die Pfeife zwischen die bräunlichen Zähne und reckt den alterskrummen Rücken so gerade wie möglich auf: "Wenn du das anfängst, gehn Oma und ich auf's Altenteil. Du tust ja gerade so, als hätten wir noch nicht genug Arbeit. Aber mach nur. Oma und ich setzen uns zur Ruhe, dann kann Elly sich den ganzen Tag in den Boutique stellen und du darfst mit den übrigen Hof und Ferkel versorgen. Oder willst du am Ende noch einen Knecht einstellen?" "Ach, Vatter! Du siehst das ganz falsch ..." "Papperlapapp! Es bleibt dabei!" Zum Zeichen, daß er nichts mehr hören will klopft er die Pfeife am Stiefelabsatz aus und brummt beim Aufstehen mit Blick auf die Pferde noch einmal: "Wenn das mal gut geht." "Ist doch nur, weil du's nicht gewöhnt bist, mit Pferden umzugehen. Dein Lebtag hast du nur Zugochsen gehalten." "Mit Recht, mein Junge. Pferde sind Luxus und Ochsen genügsam. Sie sind kräftig und machen keine Scherereien. Na, du wirst ja sehen." Kopfschüttelnd über so viel halsstarrige Uneinsichtigkeit geht Mattie zum Heuwagen hinüber und wirft einen mahnenden Blick auf seine Frau, seine Schwester und die Kinder, mit der Mahlzeit bald zu Ende zu kommen. Der Alte verdrückt sich derweil hinter die Windschutzhecke, sich dort zu erleichtern. "Willst du mit anpacken?", fragt Lud an Alex gewandt. "Klar", murmelt der zwischen zwei großen Bissen. So gut geschmeckt wie hier auf dem Land hat es ihm lange nicht. Das selbstgebackene Brot mit der knusprigen Kruste, die frische Butter. Er könnte gleich noch eine Schnitte vertragen. Doch Lud drängt zur Eile und drückt ihm eine der kleineren Heugabeln in die Hand. "So mußt du sie halten, schau!", und er macht es ihm vor. Mit leichtem Schwung befördert er ein dickes Büschel Grünzeug auf den Wagen. Alex versucht es ihm gleich zu tun. Seine Arme sind ungeübt und verkrampft. "Nicht so. Geh ein wenig in die Knie und dann Hau-Ruck!" "Aha, unser kleiner Nachbar macht sich nützlich. Brav, brav!" Mattie klopft mit der einen Hand seinem Sohn, mit der anderen Alex auf die Schulter, springt auf den Wagen, mit ausgreifenden Gabelschwenks das herauffliegende Heu gleichmäßig zu verteilen. Nach einer Zeit miserabler Ergebnisse - entweder rieselt ihm die Heumenge von der Gabel, bevor er sie ein Stück hochgehoben hat, oder er sticht die Zinken in die Erde statt ins Grün - tut es Alex seinem Freund wacker gleich. Von Zeit zu Zeit kommt Luds Vater vom Wagen herab, greift die Braunen beim Zügel und läßt das Gefährt ein Stück vorziehen. "Uff!" Alex gleitet die Gabel aus den Händen. Die Arme werden ihm steif von der ungewohnten Anstrengung, und im Rücken sitzt was und sticht ihn mit spitzer Nadel. Er blickt sich um. Alle packen mit an, der grauhaarige Großvater, Luds Mutter und Tante, deren Tochter Edit, die den Rechen ebenso kräftig zu schwingen versteht wie ein Erwachsener. Auch Luds kleinere Geschwister sind emsig dabei, das Heu zu Haufen zusammenzurechen. Nur Klein-Evchen mit ihren drei Jahren bleibt ausgenommen. Sie hockt am Wegrand und ihr blondes Lockenköpfchen ziert ein Kranz aus Feldblumen, den Edit während der Pause geflochten hat. "Na, schon müde?", fragt Lud spöttisch. Rasch bückt sich Alex nach der Gabel.

Die beiden Heuwagen rumpeln schwankend über den Feldweg, vorweg das Pferdegespann mit Mattie und Tante Lenchen auf dem Bock. Kurz dahinter schnauben die Ochsen unter dem Joch. Großvater lenkt den zweiten Wagen.mit knorriger Faust. Luds Mutter sitzt neben ihm. Immer wieder dreht sie sich um und starrt die graugelbe Wolkenwand an, die rasch von Westen heraufzieht. "Schaffen wir's?" Großvaters Schweigen ist auch eine Antwort. "Rück nicht so dicht auf!" Mattie beugt sich weit hinaus, um dies an dem hochbepackten Wagen vorbei seinem Vater zuzurufen. Den Kindern macht es Spaß, droben im Heu zu sitzen und dahingeschaukelt zu werden, während an ihren Augen die Welt vorüberzieht, schwarzweiß und braunweiß die Kühe, grün, gelb und graubraun die Landschaft mit dem Fachwerk der Häuser dazwischen. Und noch fern, fern an die Flanke eines Bergs geschmiegt Kurscheid. "Ob wir das schaffen?" Auch Lud macht bedenkliche Augen beim Anblick der sich auftürmenden Wetterwand. Erste Windböen fegen heran und zerren am Heu. "Ist ja noch weit", schätzt Alex den Weg ab, der vor ihnen liegt. Da passiert es: Ein Vogel huscht dicht vor den Braunen über den WEg. Die gehen hoch und brechen seitwärts aus. Der Wagen schwankt hin und her, droht umzukippen und bleibt mit Schräglage im Graben stecken. "Verdammtes Pferdevieh!", schimpft Großvater. "Hab doch gewußt, daß so was kommen wird!" Mattie rutscht vom Bock und sucht, die stampfenden und zitternden Tiere mit Klopfen auf Hals und Rücken zu beruhigen. Finster dreinblickend stapft der Alte näher. "Das können wir gerade gebrauchen", schnauzt er. Spann die elenden Gäule aus und häng die Ochsen davor, daß wir den Karren aus dem Dreck bekommen. Alle bis auf Evchen springen und rutschen nun von den beiden Wagen herab, um nach Kräften mit anzupacken. Mattie müht sich immer noch mit den Braunen, die angesichts des zunehmenden Wetterleuchtens mit den Augen rollen und nervös die Schwänze schlagen. Nun kommt Großvater mit den Ochsen, die sich willig vor den Unglückswagen spannen lassen. "Alles auf die linke Seite!", kommandiert der alte Bahn. Ein leichter Ruck am Zügel und die Ochsen ziehen an. "Gebt Druck", ruft Großvater über das Knirschen und Quietschen der Räder hinweg, "drückt so stark ihr könnt!" Langsam, ganz langsam hebt sich der Wagen aus dem Graben und rollt schwankend und holpernd auf den Weg zurück. Zuschauer hätten nun geklatscht. Aber alle Hände bis auf die kleinen Patschhändchen von Evchen sind im Einsatz. Doch die Gesichter glänzen von Schweiß und Erleichterung.

Graugelbe Finsternis macht die Häuser des Dorfs zur Gespensterkulisse. Hin und wieder reißt ein Blitz grelle Bilder heraus, die Szene noch unheimlicher erscheinen zu lassen. "Na", fragt Lud seinen Freund, "haste Angst?" "Kein bißchen", lügt Alex tapfer drauflos, während ihm jeder Blitz und der immer lauter und drohend sich nähernde Donner mächtig in die Knochen fährt. Gewitter in den Bergen sind eben anders als die in der Stadt. So kommt es Alex jedenfalls vor. "Nicht antreiben!", mahnt Großvater seinen Sohn, dessen Wagen voraus über das Kopfsteinpflaster dahinrattert. "Wir kommen noch zurecht. Jetzt nicht nervös werden, sonst gehn die Gäule nochmal durch!" Geduckt zerren die beiden Pferde den Heuwagen vorwärts, und es sieht so aus, als würde der nächste Blitz oder Donner ihre mühsame Beherrschung außer Kontrolle geraten lassen. Lud kriecht nach vorn und ruft hinab: "Wir laufen voraus und öffnen das Scheunentor!" Dankbar nickt Großvater hinauf, hält einen Augenblick an, damit Alex und sein Enkel abspringen können. Vom vorderen Wagen kommt Edit heruntergeturnt. Im Dauerlauf gehts nun die Straße hinauf, am sparsam erleuchteten Boutique vorüber, wo Oma Bahn in der Türe steht und ihnen nachruft: "Kommt anschließend rüber, ich hab was Gutes für euch!" Und schon stürmen sie hinters Haus, die beiden großen Flügel des SCheunentors aufzuschieben. Immer greller werden die Blitze und der Donner folgt fast unmittelbar. Sturmböen heulen auf, jagen Blätter und Strohbüschel im Kreiseltanz über den Hof. Endlich biegen klipp-klapp die Pferde ums Eck und zerren den Wagen hinter sich drein, der bei jedem Ruck gefährlich hin und herschwankt. "Geht zur Seite, Kinder!", schreit Mattie über das Heulen des Sturms hinweg. Die Gäule preschen unter das schützende Dach und bleiben bebend und weiße Flocken schäumend stehen. Aber auch Großvater lenkt nun die Ochsen durchs Scheunentor, keinen Augenblick zu früh; denn einem ohrenbetäubenden Donnerschlag folgt ein Bombardement nußgroßer Hagelstücke und Sturzfluten von Wasser. "Noch mal Schwein gehabt", seufzt Mattie erleichtert. Großvaters Miene, die ein Blitz maskenhaft hervorhebt, sagt mehr als eine grobe Antwort. Schließlich räuspert er sich und ordnet an: "Sieh zu, daß die elenden Gäule vom Hof kommen!"

Der heiße Tee und die großen Stücke Honigkuchen, die Oma Bahn jedem Kind auf den Teller legt, sind eine Wohltat. Alex schmale Schultern stecken in einer Wolljacke von Lud, die ihm viel zu groß ist. Naßkalte Zugluft wird mit jedem Öffnen der Tür ins Zimmer geweht. Es regnet immer noch, wenn auch das Donnergrollen fern und immer ferner verklingt. Alex späht an Luds Schultern vorbei zur Ofenbank hinüber. Hubert, Onkel Leos jüngster Sohn schäkert dort ungeniert mit Edit. Das alberne Lachen der beiden perlt mal laut, mal leise durch den Raum. Währenddessen eilt die alte Frau Bahn zwischen Boutique und Küche hin und her, die eine oder andere Nascherei heranzuschleppen. "Na, Mutter, übertreibs mal nicht", lacht Mattie, der sich seufzend in einen Korbsessel fallen läßt. "Das war knapp, Mutter", memoriert er die letzten Ereignisse. "Um ein Haar wär die Arbeit von Wochen zum Teufel gewesen." "Ich hab dich mit den Braunen gesehn. Sind Satansbiester!", bestätigt Oma Bahn, während sie den Kindern frischen Tee einschenkt. "War es nötig, die auszuborgen?" "Dann hätten wir zweimal rausfahren müssen und wären jetzt noch nicht fertig." "Stimmt", seufzt Matties Mutter. "Hast du ein Bier für mich, Mum?" "So kurz vor dem Abendbrot?" Mattie lächelt und zeigt auf den Honigkuchen. "Wenn du die Kleinen verwöhnst, sollte auch ein Bier für deinen Sohn dabei sein." "Alter Schlawiner!" Sie trippelt nach nebenan und kommt mit einer Flasche zurück, die sie ihm hinhält. "Danke, beste Mum", schmeichelt er, wobei seine Finger den Verschluß aufschnappen lassen. "Hoho! Hier scheint wohl was gefeiert zu werden!" Der Großvater schlurft in Pantoffeln herein und blickt sich um. "Die Kinder mampfen Leckersachen, meine älteste Enkelin schmust, und mein Sohn gibt sich dem Alkohol hin. Ich halt mich vernünftigerweise an letzterem." Damit läßt er sich ächzend in den zweiten Korbsessel sinken und streckt die Beine von sich. Ein Blick schräg durch den Raum, und seine FRau holt eine weitere Flasche aus dem Laden. Die beiden jüngeren Frauen kommen und machen sich am Herd zu schaffen. Bald dampft und brutzelt es und Wolken des Wohlgeruchs ziehn durch die Küche. "Ah, Reibekuchen!", kommt von allen Seiten ein Beifall der Vorfreude. Mutter Bahn beginnt ein Lied zu summen. Die anderen Frauen räuspern sich und fallen ein, während Edit rasch nach nebenan verschwindet und mit einer Gitarre zurückkehrt, auf der sie, ohne groß zu stimmen, den Gesang Akkorde greifend begleitet. Der erste Teller mit heißen Reibekuchen wird auf den Tisch gestellt. Vater und Sohn rücken ihre Sessel heran und langen mit zu. Statt der Teekanne steht nun eine volle Kaffeekanne auf dem Tisch, aus der man sich eifrig bedient und die, Dank Omas emsiges Kaffeemahlen, nie leer wird. Die Reibekuchenproduktion ist ebenfalls in vollem Gange, Reiben und Teig bereiten sowie das Abbacken der Kuchen geht Hand in Hand. Kinder, die eben noch Honigkuchen in sich hineinstopften, langen nun ebenso gierig nach den herzhaften Puffern. Alex hat mit dem vierten schon genug und staunt, wieviel Lud in sich einfahren kann, ohne daß ihm übel wird. "Aha, hier find ich den verlorenen Sohn!" Onkel Leo kommt durch den Boutique hereingestapft und zieht den angenehmen Duft durch die Nase. "Alex hat uns bei der Heuernte geholfen", berichtet Mattie kauend, "magst du?" Er hält Leo einen Teller mit Reibekuchen hin. "Danke, gern." Ein weiterer Stuhl wird herangeschoben und der Onkel setzt sich dazu. "Soso, er war euch eine große Hilfe, meinst du.", dabei blinzelt er zu seinem Neffen hinüber. "Und ob. Er hat zugepackt wie ein Großer." "Nun, wenn das so ist, kann ich ihn morgen zum Stallausmisten einteilen", meint Onkel Leo mit trockenem Ton. Und Lud stößt unterm Tisch seinen Freund in die Seite zum Zeichen, daß sein Onkel nur Spaß macht. In Alex Kopf tanzt einiges wild durcheinander. So recht versteht er noch nicht, wann hier eine Äußerung scherzhaft oder im Ernst gesprochen wird. Außerdem war das ein Tag mit aufregenden Ereignissen, dazu der Bauch voll Honig- und Reibekuchen, Tee und Kaffee. Und alle diese Zutaten rumoren in seinem Kopf und Bauch und machen ihn konfus. "He, kleiner Mann", lächelt der Onkel zu Alex hinüber, "willst du nicht deinem Papa Tag sagen gehen?" "Mein Papa?!" Wie der Wind kommt Alex hinter dem Tisch hervor, vergißt sich für alles zu bedanken und stürmt durch den Laden ins Freie. Gutmütiges Gelächter folgt ihm auf die Dorfstraße hinaus.

(Text: 18. November 1994)


 



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