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Hanno Erdwein

FRIEDE AUF ERDEN
oder: Wie man auch Weihnachten feiern kann

Feststimmung? Wohl eher, was man dafür hält. Der Baum
erstrahlt im alten Glanz. Feierlichkeit verbreitet der teure
Weihnachtsschmuck. Die Erwachsenen; Vater, Mutter, Onkel und
Tanten ringen krampfhaft um Harmonie. Noch vor einer halben
Stunde hörte man ihr Gezänk durchs Haus schallen. Nun
glättet ein säuerlich süßer Ausdruck ihre Mienen, während
der Mund Inbrunst heuchelnd Weihnachtslieder hören lässt.
Kinderaugen spiegeln Kerzenlicht wieder. Die kleinen Hände
umkrampfen ein Taschentuch. Das ist nass von Tränen. "So,
und nun wollen wir mal sehen, ob das Christkind euch was
gebracht hat?", lässt sich Vater leutselig vernehmen. Mit
beiden Händen greift er unter den Baum und teilt aus. Laute
satter Gutmütigkeit von Seiten der Großen begleiten die
Arbeit des Auswickelns, mit denen die Kinder eine Weile
beschäftigt sind. Jede Enthüllung entlockt den Erwachsenen
ein vielstimmiges "Oh" und "Ah". Und sie beugen sich tief
über das Spiel der Kleinen, ein wenig Anteilnahme
vorspiegelnd. "Das ist aber ein feines Püppchen! Kann es
auch Mama sagen?" "Hast du ein tolles Auto bekommen. Zeig
mal. So was bekam ich nie geschenkt!" Die Puppe wandert von
Hand zu Hand, und das fernlenkbare vollelektronische Super-
Auto kurvt durch sachkundige Onkelhand gesteuert über den
Tisch, Teller mit süßer Last umkreisend. Derweil stapeln die
Kinder unterm Tisch leere Kartons aufeinander und schmücken
sie mit Schleifen und Geschenkpapier. In ihr unfestliches
Spiel vertieft, vergessen sie, dass Weihnachten ist und dass
sie eigentlich die neuen Spielsachen bekommen haben, mit
denen sich die Großen zwischen Wein und süßen Häppchen
vergnügen. "Ein toller Flitzer", Vater nimmt Onkel Klaus die
Fernbedienung aus der Hand. "Pass auf", ruft er und drückt
eine Taste. Zwei kleine Scheinwerfer blenden grell auf. Die
Damen kreischen theatralisch und Mutter rutscht die Puppe
vom Schoß, die dann zu Boden plumpst, wo sie ihr für alle
Zeiten letztes Mama von sich gibt und verstummt. Vaters
geschickte Hände verwandeln den kleinen Wagen in eine Art
Formel-Eins-Renner. Die Reifen hasten übers Tischtuch und
zirpen schrill in den Kurven. Auch der häufige Gebrauch der
Mini-Hupe macht sich recht wirkungsvoll, wenn das Fahrzeug
um den Teller mit Honigkuchen herum auf das Sofa zuschießt,
um kurz vor der Tischkante hart herumzuschwenken und sich in
die nächste Gerade zu stürzen. "Das ist ein Schlitten!",
triumphiert er, "schade, dass er so klein ist. In voller
Größe ging ich damit zum Nürburgring!" Er gießt ein Glas
Wein hinunter und seine Wangen glühen ebenso rot wie die
Stoplichter seines Renners. "Pah Nürburgring", spottet Onkel
Robert, "kannst ja noch nicht mal deinen VW vernünftig
einparken." "Was kann ich nicht?!" "Deine Rostlaube da
draußen so hinstellen, dass andere auch Platz haben."
"Frechheit! Hast du das gehört, Marga? Dieser Vollidiot will
MIR beibringen, wie man einen Wagen parkt ..." Die
Fernbedienung knallt auf den Tisch hart neben das Weinglas,
welches - inzwischen frisch gefüllt - prompt umstürzt und
seinen Inhalt auf Tante Irenes Festkleid ergießt. Unter
Gekreisch springt diese auf und stößt ihren Stuhl nach
hinten gegen den Weihnachtsbaum,der sich unter leisem
Seufzen neigt und mit hellem Geklirr auf dem Boden landet.
Peng. Das war die Sicherung. Stromkreise sind nun mal
begrenzt belastbar. Es wäre jetzt stockfinster, wenn nicht
eine Straßenlaterne gnädig die Szene beleuchten würde. Eine
Szene? Mehr ein Schattenspiel aus wild fuchtelnden Händen
und hektischer Geschäftigkeit. Vater kramt in Schubladen und
sucht nach einer Ersatzsicherung. Onkel Klaus und Onkel
Robert mühen sich, dem Weihnachtsbaum neue Standfestigkeit
zu geben. Mutter hat eine Kerze gefunden. Tante Irene will
sie mit zitternden Händen anzünden. "Lass mich mal." Tante
Karola drängt sich dazu und nimmt ihrer Schwester die
Zündhölzer weg. "Du steckst uns noch die Bude in Brand mit
deiner Ungeschicklichkeit." "Also - da hört sich doch ...",
Tante Irene dreht sich um und läuft schluchzend aus dem
Raum. "Das blöde Huhn. Zimperlich wie eine Mimose!"
"Sprichst du von meiner Frau?" Onkel Robert lässt den
Christbaum los, der wieder zu Boden kippt und geht drohend
auf Tante Karola zu. "Von wem denn sonst? Bring ihr mal
Beherrschung bei, deiner piekfeinen Zimtzie..." Eine
Ohrfeige unterbricht die Tante mitten im Wort. Gleich darauf
sind es ihre Nägel, die im Gesicht von Onkel Robert ihre
blutige Spur hinterlassen. Partei ergreifend mischen die
Andern sich munter ein. Gebrüll und Handgreiflichkeiten
steigern sich zum Crescendo Gegenstände, die zuvor noch ein
trautes Beieinander symbolisierten, werden zur Waffe, zu
Wurfgeschossen, zu Schutzschilden. Im Dunkeln tobt der Zwist
mit verbalen und körperlichen Verletzungen von einer Seite
des Raums zur anderen immer um den Tisch herum, unter dem
die Kinder seelenruhig mit der Verpackung spielen.
"Hornochse!" "Esel!" "Dämlicher Hund!" "Blöde Kuh!" Die
Kleinen spitzen die Ohren. Offensichtlich erhalten sie eine
Extrastunde Zoologie. "Frigide Henne!" "Geiler Bock!"
"Verhurte Ratte!" "Impotenter Ochse!" Die Ausschmückungen
lassen an Farbigkeit nichts zu wünschen übrig. Doch einer
fehlt bei alledem, Vater; denn sein Stentor-Organ hätte
alles schlankweg niedergebrüllt. Während nun die Ohrfeigen
klatschen und Worte wie Gegenstände umherfliegen, stolpert
der Herr des Hauses volltrunken zum Keller hinab. Seine
Rechte umklammert einen runden Gegenstand. Eine Weile
hantiert er unsicher im Dunkeln herum. Doch dann flammt
plötzlich das Kellerlicht auf. Droben wird schlagartig die
Szene beleuchtet und aus dem Musikschrank, der immer wieder
kräftige Stöße verpasst bekommt, dröhnt laut und vernehmlich
ein Mädchenchor: "Frieden auf Erden!" Vater lehnt schlaff im
Türrahmen und blinzelt ungläubig auf das Chaos, auf die
blutig geschundene Familie und die Trümmer der Einrichtung.
Einzig zufrieden mit allem sind nach wie vor die Kinder
unter dem Tisch. Sie schauen strahlend umher mit Festglanz
in den Augen. Dazu wiederholt der Mädchenchor aus der
Musiktruhe nachdrücklich: "Und Frieden den Menschen auf
Erden, die guten Willens sind!"

(c) HE Dezember 1993

 



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