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Hanno Erdwein

Daffie schweigt

Er war der erste aus dem Wurf, bei dem jener gewagte
Eingriff gelang. Seitdem konnte der Jungrüde Daffie
sprechen. Kirschbaums, in deren vierköpfiger Familie er
aufwuchs, trugen fortan ihren Kopf um einiges höher.
Plötzlich waren sie wer, standen sie im Mittelpunkt des
Interesses. Medienvertreter drängten sich auf ihrer
Fußmatte. Vater Jörg, Mutter Kerstin, Anja und Robert
flimmerten täglich über die Mattscheibe. Eine Zeitlang waren
sie das Weltereignis und ganze Reisegruppen pilgerten zu
ihrem Reihenhäuschen am Waldrand hinaus. Aber nur eine
verhältnismäßig kurze Zeit. Das Interesse an einem Hund, der
mit guturaler Stimme halbwegs verständliche Sätze sprechen
konnte, erlahmte allmählich. Und Kirschbaums sanken in die
Anonymität zurück. Den Frust, plötzlich wieder uninteressant
geworden zu sein, hatte allerdings ihr Hund Daffie
auszuhalten.

Dabei war, was mit Daffie geschah, eine chirurgische
Meisterleistung, eine wahre Weltsensation. Lange hatte man
gesucht, ausgewählt, verworfen und weitergesucht. Erstens
sollte das Tier aus einem besonders robusten Wurf stammen.
Zweitens mußte es im sozialen Umfeld einer Familie
aufgewachsen, an Sprache gewöhnt sein. Vater Kirschbaum
kannte den Leiter des Projektes "Prometeus" und der ließ
überprüfen, ob Daffie geeignet war. Die Werte konnten nicht
besser sein. Daffie kam für ein paar Wochen in die
Tierklinik. Dort entnahm man seiner Lippe eine Zelle, aus
der der neue Kehlkopf geklont wurde, ein Organ, das
menschlicher Lautbildung fähig war. Noch ein paar
Manipulationen an Daffies Zunge und Kiefer und er ließ die
ersten verständlichen Worte vernehmen: "Hunger ... Durst."
Das Chirurgenteam war begeistert und feierte die
prometäische Tat mit knallenden Sektkorken.

In ganzen Sätzen sprechen zu können, ist für einen Hund, der
schon als winziger Welpe bei Menschen aufwuchs, nichts
Außergewöhnliches. Man hat stets die geistigen Fähigkeiten
von Tieren unterschätzt. Was ihnen zur Kommunikation fehlt,
ist lediglich das geeignete Sprechorgan. Und als Daffie
darüber verfügte, machte er begeistert Gebrauch davon.
Gepflegtes Sprechen allerdings lernte er nicht bei seiner
Pflegefamilie Kirschbaum. Frau Merklin, die blinde
nachbarin, zu deren Füßen er sich stundenlang
zusammenrollte, während sie die sonnigen Zeiten des Tages im
Garten verbrachte, war seine eigentliche Schulmeisterin.
Kirschbaums ließen es zu, daß das Tier über den niedrigen
zaun setzte, im Garten der Nachbarin ein wenig
umherlungerte, um sich schweifwedelnd ihrer Hand zu nähern,
die auch gleich zu streicheln begann: "Du bist ein schöner
Hund. Hast ja ein richtig weiches Fell." Daffie stellte die
Lauscher hoch, um sich keinen Laut der angenehmen Stimme
entgehen zu lassen. Und die einsame Frau erzählte gern von
sich und der Welt, die sie nur noch mit vier Sinnen
wahrnehmen konnte. Für Daffies Ohren wurde dies zu seiner
Welt im Kopf. Die Welt hingegen, die ihm Kirschbaums bieten
konnte, war karg, steril und voll verbaler Kälte. Sie schloß
ihn nur dann ein, wenn es ums Fressen ging oder zur knappen
runde um den Block für's Abkoten.

Das war vor dem ereignisvollen Eingriff. Und als der
vollzogen war, staunte man nicht schlecht, wie scheinbar aus
dem Nichts heraus Daffie recht geistreich und äußerst
gebildet an Gesprächen teilnehmen konnte. Es erwies sich
bald, daß er Anlagen zum Philosophen besaß.
Leider fehlte es ihm meist an geeigneten Gesprächspartnern

Manchen Feierabend mühte er sich, Familie Kirschbaum in eine
Plauderei über Gott und die Welt zu verwickeln, was aber
kläglich mißlang. Erstens reichte ihr Horizont längst nicht
an den Daffies heran. Zweitens lief permanent die widerliche
Flimmerkiste, in deren geistigen Sumpf allabendlich die
Familie eintauchen wollte. Ein bramabasierender Hund war
ihnen dabei nur hinderlich. Er wurde ausgeschnauzt und ins
Vorderstübchen gesperrt.

So beschritt Daffie eigene Wege, sich geistige Anregung zu
verschaffen. Vielleicht hätte er noch lesen gelernt, wären
seine Pfoten zum Umblättern von Seiten geeignet gewesen. So
mußte er sich mit dem begnügen, was Worte an sein Ohr
trugen. Die alte freundschaft mit Frau Merklin lebte wieder
auf. Bei seinem ersten Besuch als der menschlichen Sprache
fähiges Tier, bedankte er sich wortgewandt für die
liebevolle Begrüßung. Und nachdem Frau Merklin den Schock,
einen sprechenden Hund vor sich zu haben, überwunden hatte,
kam es recht häufig zu ausgedehnten Diskussionen. Der Hund
blühte sichtlich auf.

Nachdem das Interesse der Öffentlichkeit an Daffie erlahmt
war, wurde er von Kirschbaums schnöde vernachlässigt. Er war
ihnen gleichgültig, zeitweise sogar lästig. Man schnauzte
ihn an. scheuchte ihn von einer Ecke in die andere. Sprach
nur noch in rüder Weise mit ihm. Im allgemeinen darf gesagt
werden, daß der Umgangston bei Kirschbaums nicht allzu
erfreulich war. Gezänk und Anschreien gehörten zum
alltäglichen Erscheinungsbild der Vier. Ein Hund ist ein
sensibles Wesen. Und es ist nicht zu verwundern, daß Daffie
sehr darunter litt. Frau Merklins Nähe, in die er sich so
oft wie möglich begab, tat ihm wohl und er klagte sich auch
häufig bei ihr aus.

Das blieb nicht unentdeckt. Eines späten Sommertages machte
sich Vater Kirschbaum daran, den trennenden zaun zwischen
den Grundstücken zu erhöhen. "Damit unser Hund nicht ständig
auf ihrem Rasen herumtobt", kommentierte er sein tun Frau
Merklin gegenüber. Daß dies nur ein vorgeschobener Grund
war, lag auf der Hand und war Daffie wie auch Frau Merklin
sonnenklar. Beide, jeder auf seiner Seite des zauns,
trauerte still vor sich hin. Die Nähe des zauns wurde dem
Hund verboten. "Daffie komm her", donnerte es, sobald das
Tier gesenkten Kopfs dem Maschendraht nahe kam. Frau Merklin
ertrug das nicht und zeigte sich immer seltener im Garten.

Was nutzen einem Hund die schönsten geistigen Anlagen und die
Fähigkeit, seine Gedanken in wohlgesetzte Rede zu fassen, wenn
ihm die entsprechende Umgebung fehlt? Er schweigt. "Der Hund ist
doof!", bekommt er dann zu hören, weil keiner die Ursache seiner
Stummheit hinterfragt. "Operation fehlgeschlagen", ergab eine
neuerliche Untersuchung in der Tierklinik, bei der Daffie
beharrlich sein Schweigen beibehielt.

Nicht lange danach verweigerte er konsequenter Weise auch
jegliche Nahrung. Eine Woche später legte er sich hin und
stand nicht mehr auf. Noch am gleichen Tag schaffte ihn
Vater zum Abdecker. Erleichterung machte sich im Hause
Kirschbaum breit, endlich von dem lästigen Tier befreit zu
sein.

Die Tierklinik unternahm bis heute keinen weiteren Versuch,
einem Tier das Sprechen beizubringen, Das Experiment Daffie,
so war man überzeugt, war kläglich gescheitert.

(c) HE Dezember 2002

 



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