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Simon Croll
Einmal durchs Dorf
[Bitwald revisited]
1441 Wörter
Man sagt, alte Bäume verpflanzt man nicht.
Man sagt, der Bitwald war noch jung.
Man sagt, die Piazza Virtuale ist überall.
Man wird sehen.
Nach vielen schneereichen Rückfällen wärmte heute die
Frühlingssonne ein erstes Mal unser globales Dörfchen.
In der Kamera ein höchst empfindlicher Schwarzweißfilm -
für die dunklen Tage geradezu ideal. Jetzt muß das zweite
Gehäuse herhalten und den Farbfilm aufnehmen, der für die
satte Lichtfülle gerade richtig ist - merkwürdig, daß
solche 100er Filme im Bitwald die Standardfilme sind, wo es dort oft
so trübe ist.
Ich sage meinen Söhnen Bescheid, daß ich ins Dorf gehe, um
ein paar Bilder zu machen. „Was willste denn hier fotografieren!“
Das ist keine Frage, sondern Protest. Unverdrossen schultere ich die
Kamera, ohne Schutztasche, wie auch ich zum ersten Mal ohne Mantel oder
Jacke losziehe. Ich fühle mich beinahe nackt - so lang war der
Winter.
Das Brombeerlaub zeigt merkwürdigerweise noch seine Herbstfärbung,
das leuchtende Weinrot; ich überlege kurz, aber dann verwerfe ich
dieses Bild: nicht jetzt, nicht heute! Wenn die Ranken nicht wissen,
was angesagt ist: Ich lasse mich nicht irre machen.
Ein alter Mann mit schwerem Schritt kommt die leicht ansteigende Straße
herauf. Ich erkenne ihn nicht sofort, weil er sein Auto nicht um sich
hat. (Auch mich erkennen die Leute schneller, wenn ich das Signet „Ford“
angesteckt habe.) Es ist mein Nachbar, der mir gesteht, daß er
vom Saufen komme - dabei ist er so kreuzbrav wie die Haushälterin
des Pfarrers. Ein Jubiläum hat er besucht, erzählt er kurz,
um dann dringend zu empfehlen, daß ich doch die kleinen Buchen
neben dem Pflaumenbaum abmachen soll, weil sie eh nichts bringen und
der Pflaume den Saft nehmen. Er sagt tatsächlich abmachen. Ich
muß scharf nachdenken, welche Pflanzen er meint, muß ihm
dann aber Recht geben. Er bietet in sehr rührender Weise seine
Hilfe an: „Sie wissen doch, daß ich sowas gerne mache!“
Ja, ich weiß: als wir neulich einen kranken Baum fällen mußten,
half sein Sohn dabei, während er und seine Frau mit einer schweren
Erkältung zuhause bleiben mußten. er saß die ganze
Zeit im natürlich dunkelblauen Bademantel am Wohnzimmerfenster
und verfolgte die Holzarbeiten, nicht ohne hin und wieder den Kopf zu
schütteln. Dabei ist alles gut gegangen, irgendwie. Viel Sehnsucht
lag da in seinem Blick.
Es folgen weitere Hilfsangebote, auf die ich herzlich gerne zurückkommen
werde, denn er hat auch eine Fräse, die mir das Umgraben erspart,
und er hat die Pflanzen, die so gut schmecken. Wenn erst die Buchen
abgemacht sind...
Er bietet mir das Du an, nach vier Jahren. Ein bißchen plötzlich,
finde ich. Alfons heißt er, und ich mag ihn schon lange, weil
er so wie mein Opa ist, und weil er eine Fräse hat. Ich mache ein
Foto von ihm, natürlich mit Kappe. Seine Frau wirds freuen, und
mich auch.
Es wird heftig gebaut in Bitwald. das ist ein gutes Zeichen: Die Menschen
fassen wieder Vertrauen. Und die Hypothekenzinsen sind niedrig. Manche
bauen ein Leben lang. Zum Beispiel an der reichlich windschiefen Holzhütte,
direkt gegenüber vom Königreichssaal der Zeugen Jehovas. Ein
bewohnter Schuppen, dessen wenige Quadratmeter Umland von einem emsigen,
fast verbissenen Gärtner so intensiv genutzt werden, daß
er sicher davon leben kann. Das Angestrengte wird gebrochen von dem
Vogelhäuschen, das er vor einem Fenster in den Baum gehängt
hat. Es ist mehr ein Vogelpalästchen geworden, mit Terrasse, Balustraden,
zwei Stockwerken und einem Schindelchen-Dach. Die Haupteinflugshalle
wird geziert von einem Kreuz, das sicher nicht der tierischen Navigation
dient. Bedenke, oh Vogel, daß du sterblich bist. Und, ach ja:
Es geht auf Ostern zu! Kein Foto.
Von dort zum Postamt gibt es eine kleine Straße, auf der Kinder
spielen, doch ich verzichte darauf, mich anzupirschen, denn eine Mutter
hält Wache. Mit reiherscharfem Blick hat sie mich eräugt und
tritt ein paar Schritte näher an die Jungen heran. Kein Foto.
Um die Ecke, und da sitzt er schon, der bärtige Alte, den ich
schon ein paarmal im Dorf gesehen habe, wenn er auf einer der beiden
Bänke saß, die den Bürgern von Bitwald zur Verfügung
stehen. Ich überwinde mich, meine Fotografier-Erlaubnis-Rede zu
halten, denn er hat einen herrlich weißen Bart - ein schöner
Kontrast zur hellblauen Baseballkappe. Es braucht immer etwas Mut, die
Menschen hier anzusprechen. diesmal ist es besonders schlimm, denn er
hört fast nichts. Ich muß meine schüchterne Bitte hinausbrüllen
und habe das Gefühl, daß in ganz Bitwald jetzt die Fenster
aufgehen. Ich schaue mich um: Die Kinder spielen immer noch, es kann
so schlimm nicht sein.
Der Alte ist begeistert und will sofort einen Abzug haben. er besteht
darauf, daß sein selbstgeschnitzter Stock mit aufs Bild kommt,
dessen Knauf in Form einer Ente gehalten ist. Er nimmt sofort die Kappe
ab, und damit sind auch die beschatteten Augen kein Problem mehr. Der
Bart wird im Spätlicht gut kommen. „Sie sind kein waschechter
Bitwalder“, vermutet er richtig. „Sonst hätten Sie
mich nie angesprochen. Die Leute reden nicht mit mir, weil ich ihr Platt
nicht spreche. Nichtmal die Rentner reden mit mir. Kennen Sie den Globus?“
Ich weiß nicht recht, was ich brüllen soll. Da holt er schon
seine Brieftasche raus und fischt einen alten Briefumschlag hervor.
Auf der Rückseite ist eine Kinderzeichnung zu sehen, mit krakeligem
Filzer. Er selbst hat sie angefertigt und erklärt mir damit seinen
Globus: eine Skizze der kleinen Kreuzung, an der wir hier stehen. Das
heißt, er sitzt auf einen billigen Camping-Stühlchen. Er
nordet den Zettel ein und weist mit entschiedener Geste in die vier
Himmelsrichtungen. „Das ist Nord. Und da Westen. Und da Süden.
Nein, etwas mehr nach da! Und...“ Er sieht nach auf dem abgegriffenen
Papier: „Ost. Und ich war überall, junger Mann.“ Seine
Augen glänzen sogar durch die irrsinnig dicken Brillengläser
hindurch: „Marokkoooh.... Kennen Sie das?“ „Vom Atlas!“,
schreie ich in sein Ohr. „Ich war da, als Fremdenlegionär.
Ich zeig Ihnen was!“
Er kramt in der Plastikbrieftasche, deren transparente Folien sich
längst auflösen. Ein Foto mit „echtem Büttenschnitt“
zeigt einen Draufgänger, der zwei schwarze Frauen umarmt, irgendwo
in Afrika. Es sieht irgendwie nach Grabschen aus, finde ich, aber die
Frauen lachen. Der Mann auch. „Als wir wiederkamen, waren wir
für die Nazis vaterlandslose Elemente. 41 bin ich eingezogen worden.
Nach dem Krieg...“ Er holt einen vergilbten Brief heraus. An den
Falzen ist er auf der Rückseite mit Kreppband verklebt, damit er
nicht auseinanderfällt. Er versucht vergeblich, ihn zu entziffern.
„Ist der von den Amerikanern? Dann ist das eine Bescheinigung,
daß ich in Mauthausen eingesetzt war, um den Überlebenden
zu helfen, den Juden. Und jetzt? Glauben Sie, von denen hilft mir einer?
Die könnte mir ruhig mal eine Freifahrt nach Israel spendieren,
meinen Sie nicht? - Aber ich hab noch mehr.“ Wieder Fotos, sehr
alt, brüchig wie trockene Erde. Eines zeigt ihn als vielleicht
Vierzehnjährigen mit seinem Hund. Sie spielen Karten, der Hund
und er. Dann wieder sein Hund, das Bild unscharf, der Hund scharf: Er
kopuliert gerade mit einem andern Tier, das auch ein Huhn sein könnte.
Der Alte lacht, als er meine Gedanken liest, und nimmt mir das Bild
weg.
Es folgen Arbeitszeugnisse - ein Foto im Halbprofil - Schreiben der
Krankenkasse - Foto frontal, mit Dokumenten - und seine Adresse. „Die
Straße kann ich mir nicht merken, schreiben Sie sich das auf!“
Ich habe nichts zum Schreiben bei mir, denn es ist ja Frühling,
da braucht man keine Jacke. Den Namen merke ich mir, ich werde ihn im
Telefonbuch wiederfinden.
An der Post vorbei, der Apotheke. Dort verschwindet eine Frau mit nachtschwarzen
Locken. Ich warte, ob sie wieder herauskommt - aber nichts geschieht.
Alle möglichen Leute verlassen die Apotheke, die sie meines Wissens
nie betreten haben, doch die Locken kommen niemals wieder. Ich muß
mir diese Apotheke mal in Ruhe von innen ansehen.
Brötchen will ich noch holen, im sogenannten Supermarkt. [Kenner
des Bitwaldes kennen diesen Supermarkt.]
Hier könnte ich den Schwarzweißfilm doch noch gebrauchen,
es ist alles künstlich beleuchtet, der Farbfilm zeigt hier nur
Neongrüngelb. Doch das Personal ist so grantig, daß mein
FragemutWagemut mich sofort verläßt. aber draußen,
vor der Tür, stehen zwei kleine Jungs vor dem Fenster mit den Sonderangebotsschildern.
Unter einer riesengroßen 5,95 beißen sie herzhaft in ihre
Milchschnitten. Die Gelegenheit ist günstig, die Kinder einverstanden,
die Mutter nicht in Sicht: Zwei Fotos. Ich bedanke mich, drehe mich
um und sehe nicht eine, sondern zwei Mütter. Ich will schon meine
Kamera samt Film darreichen, zum Beweis, daß ich niemanden entführen
oder sexuell belästigen wollte, da lächeln sie sich und mich
verständnisinnig an, voller Freude, daß nicht nur sie ihre
Kinder zum Knutschen süß finden, bei deren Bekleidung sie
sich doch so viel Mühe gegeben haben.
Ich bin glücklich. Der Bitwald lebt.
Bin gespannt auf die Bilder.
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