Hanno Erdwein
ALS GOTT EIN BIER TRINKEN GING
oder: Schlimm-Schlimm
Langer Samstag. Julihitze. Ermüdende Einkaufsstunden in der
City. Der Hemdkragen schweißnaß. Die Zunge klebt wie
Löschpapier am Gaumen. Endlich gelingt es mir, mich von den
Meinen zutrennen.
"Gönnt euch doch auch mal was! Geht in die Eisdiele oder in
die Milchbar!"
Fred und Ulla bekommen große Augen undhüpfen meiner Frau
erwartungsfroh voran.
"Ich warte hier auf euch."
Dann nimmt mich die Kühle des "Hahnenkellers" auf. Die Tische
sind vollbesetzt und am Tresen steht man bereits dicht bei dicht.
Hannes zapft wie ein Wilder. Enttäuscht will ich gehen, da
fällt wie zufällig mein Blick auf den Zweiertisch am Ende
des Schlauchs. Erleichtert laß ich mich auf den einzig freien
Stuhl sinken und mache Hannes SOS-Zeichen, mich nicht verdursten
zu lassen. Der aber zapft, spült und kassiert mit fliegenden
Armenund hat für mich nur ein bedauerndes Schulterzucken. Resigniert
wende ich mich einstweilen meinem Gegenüber zu, einem älteren
Herrn mit Sonnenbrille und angegrauten Schläfen.
"'Ne Menge Trubel hier", bemerke ich, nur um etwas zu sagen. Der
Angesprochene nickt und klopft an sein leeres Glas.
"Sitz schon 'ne Weile auf dem Trockenen. Hannes kann ja nicht überall
sein", lächelt er. Ich dreh mich noch mal um, um den Blick
des Wirtsfür eine Bestellung einzufangen. Hoffnungslos. Den
Gästen an den anderen Tischen geht es nicht besser. Sie fordern
lautstarkNachschub.
"Heute könnte er gut 'nen zweiten Mann gebrauchen."
"Stimmt", bestätigt mein Vis-a-Vis. Seine Rechte klopft Zigaretten
aus einer Schachtel und hält sie mir hin.
"Danke.Nichtraucher."
"Ich darf doch?"
"Aber sicher."
Umständlich hantiert er mit dem Feuerzeug. Weshalb trägt
er bei demDämmerlicht überhaupt die Sonnenbrille? Da kommt
mir die Erleuchtung. Blind!
"Kann ich behilflich sein?"
"Danke. Nicht nötig."
Mit einemmal ist die lockere Haltung zu meinem Tischnachbarn zum
Teufel. Ich fühle mich verkrampft und schwanke zwischen Ablehnung
und Mitleid. Bisher war mir kaum einmal ein Behinderter über
den Weg gelaufen. Oder war ich ihnen aus demWeg gegangen? Das feine
Gespür des Blinden hat meine Verkrampfung gleich registriert.
Ein leichtes Schmunzeln kräuselt seine Oberlippe.
"Nun haben Sie es entdeckt und sind unsicher geworden. Ich höre
es an der Art, wie sie den armen Bierfilz malträtieren. Aber
das braucht Ihnen doch nicht peinlich zusein."
Seine Hand kommt über den Tisch.
"Degendorf. Organist undMusiklehrer an der hiesigen Blindenschule."
Ich erwidere den Händedruck und stelle mich ebenfalls vor.
Endlich gelingt es mir auch, Hannes mit zwei Fingern klar zu machen,
was ich will.Und zu unserer Freude reagiert er prompt. Darauf versenken
wir unsere Nasen in den Schaum und trinken. Es ist himmlich. - Zur
Theke hin gebe ich Signal für Nachschub.
"Das war Hilfe in höchster Not", seufzt Degendorf und wischt
sich den Schaum vom Mund. Dann angelt er nach seiner Zigarette und
pafft gedankenverloren ein paar Züge und wendet sich mir zu.
"Was Ihre Verunsicherung angeht, so kann ich Sie ganz gut verstehen.
Ich war vor kurzem in einer ähnlichen Situation. Darf ich Ihnen
das erzählen?" Ich nicke zustimmend, korrigiere mich aber sogleich:
"Gern, legen Sie los!" Zuvor aber stellt Hannes zwei volle Gläser
vor uns ab und Degendorf stärkt sich mit einem langen Zug.
Dann beginnt er, umwölkt vom Rauch einer neuen Zigarette, zu
sprechen:
"Es war am letzten Sonntag, nachmittags. Orgelspiel und Andacht
waren vorbei, und ich freute mich auf heißen Kaffee und Apfelkuchen.
Beides ist in bester Qualität bei den Ordensschwestern der
Blindenschule zu haben. Ich machte mich also mit meinem Stock auf
den vertrauten Weg. Übrigens, kennen Sie die Gegend?"
"Nein."
"Gut, dann muß ich ein paar Erklärungen vorausschicken.
Oberhalb unserer Blindenschule liegt die Psychiatrie und Nervenklinik.
Für manch einen ist das keine willkommene Nachbarschaft."
"Kann ich mir denken", werfe ich ein. Degendorf nickt und beschreibt
mit der Zigarette einen Kreis in der Luft.
"Man erzählte so dies und das, nie etwas Genaues, Überprüfbares.
Derartiges Geschwätz trägt nicht dazu bei, daß man
sich in der Nähe einer solchen Einrichtung sicher fühlt.
Und nun kam mir jemand die schmale, gehsteiglose Gasse entgegen,
jemand, der eine Blechbüchse wie einen Ball vor sich her trat
und bei jedem Stoß in rauhes, kindisches Lachen ausbrach.
Dieser Jemand war aber kein Kind mehr, das hörte ich genau.
Und der blieb nun dicht vor mir stehen.
"Du - spiel mit mir!", kam es fordernd mit grollender Baßstimme
gut einen Kopf über mir. Und mir wurde schaudernd klar, wen
ich vormir hatte. Weniger klar war, wie ich mich verhalten sollte.
Wie würde der Kranke reagieren, wenn ich mich weigerte? Was
sollte ich unternehmen, wenn er außer Kontrolle geriet? Ich
fühlte mich mutterseelenalleine mit ihm.
"Komm, spiel mit mir!" Der Zeigefinger auf meiner Brust gab seiner
Forderung Nachdruck.
"Lieber Freund", sprach ich so ruhig wie möglich, "ich kann
leider nicht mit dir spielen. Ich kann nicht sehen." Und ich sandte
gleichzeitig ein Stoßgebet gen Himmel, daß er auch verstand,
was ich sagte.
"Nicht sehen? - Oh! - Er kann nicht sehen. - Kann gar nicht
sehen.- Gar nicht ..." Diese Worte kamen gedehnt und nachdenklich.
Und er wiederholte sie fortwährend, wobei er langsam um mich
herum ging. "Er kann gar nicht sehen. - Schlimm, schlimm!" Nun stand
er wieder dicht vor mir. "Kann nicht sehen ...schlimm! ... Alles
ist dunkel! ... Schlimm, schlimm! ... Ich muß dich heilen.
... Ich bin Gott. Ich mach dich heil!" Unter anderen Umständen
hätte mich diese Vorstellung erheitert. Doch das wurde alles
mit so viel Ernst und Anteilnahme gesagt, daß ich stark beeindruckt
schwieg. Von neuem stieß mich sein Zeigefinger an.
"Du mußt aber glauben ... ich bin Gott. - Ich mach dich heil.
- Allesdunkel ... kann nicht sehen ... schlimm, schlimm ..." Jetzt
merkte ich, daß er nach meinem Taststock griff. Ich ließ
los, in der Hoffnung, er werde keinen Unsinn damit anstellen. Vor
sich hin brummend tappte er davon. Was hatte er vor? Im Geiste sah
ich ihn, wie er, die Augen geschlossen, mit dem Stab die Luft zerhieb.
So war es auch: Doing-doing, doing-doing, doing-doing. Das kannte
ich. Es waren die Eisenstäbe des zweiflügeligen Schultors.
Mein "göttlicher" Freund klopfte sich daran entlang, doing-doing,
erst in die eine Richtung bergauf, und, doing-doing, wieder bergab.
Kurz darauf drückte er mir den Stock vorsichtig in die Hand.
"Nicht sehen ... alles dunkel ... das ist nicht gut für dich.
- Ich muß helfen ... muß dich heil machen ... ich kann
das ... ich bin Gott!" Bei dieser für ihn wohl sehr langen
Rede lag seine Hand schwer auf meiner Schulter. Und jetzt strich
sie sanft über meinen Arm. "Schlimm ... muß dich heil
machen ... du mußt aber glauben, ja?!" Ich sagte, daß
ich ihm glauben würde, und er freute sich. Ja, er begeisterte
sich geradezu und wurde immer ausgelassener und sprang in einem
fort um mich herum, wobei sein dröhnender Baß die Gasse
erfüllte:
"Heil machen ... heil machen ... ich bin Gott ... heil machen ...
heil machen ...!" Endlich, ich hatte schon arge Bedenken, wie das
ausgehen würde, beruhigte er sich und fragte nach der Uhrzeit.
Ich sagte sie ihm.
"Oh - das ist spät - spät - ich muß laufen - mein
Kamerad wartet - wollen Bier trinken ... Bier ist gut, ja?" Guten
Gewissens bestätigte ich, daß Bier gut schmecke und löste
damit beinahe wieder einen Veitstanz aus. Endlos schüttelte
er mir die Hand.
"Armer Mann ... alles ist dunkel ... das ist nicht gut ... ich muß
heil machen ... ich bin ja Gott ... schlimm, schlimm ..." Dann riß
er sich los und stob mit Riesenschritten davon. Auf halbem Kirchplatz
blieb er nochmal stehen. "Bier ist gut!"
"Ja, Bier schmeckt gut!", rief ich zurück.
"Ich mach dich heil - ich kann das ...", kam es erneut. Darauf lief
er weiter. Ich ging langsam bergauf. "Schlimm, schlimm ..." Das
war schon jenseits der Hauptverkehrsstraße und wurde rasch
vom Autolärm verschluckt."
Degendorf schweigt und leert sein Glas. Auf mein
Zeichen hin bringt der Wirt frisches Bier. Der Hauptandrang ist
vorüber. Die wenigen Gäste am Tresen und an denTischen
zahlen und gehen. Ein scharfes Klicken läßt mich auf
meinen Tischnachbarn schauen. Es war der Deckel seiner Armbanduhr.
Ich scheue mich zu fragen, wie er die Zeit abliest. "Tut mir leid",
sagt er, "schon fünf vorbei. Ich muß gehen. Die Chorstunde."
Dabei nimmt er sein Stöckchen vom Boden auf, kommt vorsichtig
um den Tisch herum und reicht mir die Hand. Dann zahlt er bei Hannes,
laviert geschickt zwischen Tischen und Stühlen hindurch dem
Ausgang zu. Ich hätte gern etwas getan - aber was? - Ihm helfen
- ihn hinaus begleiten - sein Bier bezahlen? Ich habe Zweifel. Sie
beschäftigen mich. Sie halten mich zurück, bis er draußen
ist.
(Text: 1990)