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Simon Croll
Belemas Erbe
Exposé
Melanie Sternfeld ist eine junge Frau im Bergischen Land. Das Reifezeugnis
hat sie in der Tasche, und Leben könnte jetzt so richtig losgehen.
Wären da nicht hartnäckige, widerborstige Kletten, die sie
in ihrem Leben als folgsame Tochter festhalten wollen. Ihre Mutter legt
es darauf an, sie als Pflegekraft zu missbrauchen. Dazu pflanzt sie
der Tochter ein übermächtiges Schuldgefühl ein. Nicht
zuletzt, um ungestört ihre kleinen Orgien abfeiern zu können.
Ihre beginnende Demenz-Erkrankung nimmt niemand ernst. Mellys Vater
hat sich vor zehn Jahren aus dem Staub gemacht. Selbst auf Philos, ihren
Hund, ist kein Verlass, seit Juro, stilles und stures Migrantenkind,
ihn entführt hat, um Melanie zur Liebe zu erpressen.
Da stirbt ihr Opa Belema. Der drittklassige Dompteur vererbt Melanie
einen gasbetriebenen Kühlschrank und eine Handvoll Mäuse.Damit
sei der geliebten Enkelin dauerhaft geholfen, behauptet er im Testament.
Aber was um Himmels willen fängt man mit so einer Erbschaft an?
Der Roman erzählt, auf welch widrigen Wegen Melanie zu sich selbst
findet. Dabei muss sie tun, was ihr am schwersten fällt: Grenzen
setzen und nein sagen. Unvermutet findet sie bei dieser Aufgabe große
und kleine, sehr kleine Helfer.
„Du gehst deinen Weg. Ich gehe meinen.“ Für Melanie
werden diese Worte zum Mantra.
170 Normseiten, 245.380 Zeichen
****Textprobe vom Anfang****
Erbengemeinschaft
"Philos!"
Melanie brüllte den Hund an und war einen Moment lang versucht,
etwas nach ihm zu werfen. Der Retriever hatte mit den Jahren Eigenheiten
angenommen, die sie nerven konnten. Jetzt kratzte er wie wild an der
Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter, die sich hingelegt hatte.
Melanie hatte eine würzige Gemüse-Lasagne gekocht. Mama hatte
auch davon gegessen, war dann aber ins Bad gegangen und hatte sich zielgenau
übergeben. Das ging seit drei Wochen so. Mel war einmal dazugekommen
und hatte gesehen, wie ihre Mutter sich den Finger in den Rachen steckte.
Doktor Ritter, der Hausarzt, sagte: "Die gnädige Frau wird
gegen irgendwas protestieren, Mädchen. Schau, dass du rausbekommst,
was es ist. Dann hört das sofort auf. Glaub mir. Ich kenn sie."
Heute war im Bad viel daneben gegangen. Der Protest wurde offenbar schärfer
und stank zum Speien. Aber Mel hatte schon alles beseitigt und war anschließend
im Ohrensessel eingeschlafen. Als sie Philos rumoren hörte, hielt
sie noch den Ausdruck von der Ulmer Uni-Homepage in der Hand mit den
Zulassungsbedingungen.
Sie sprang auf und hatte Mühe, den großen Kerl von der Tür
wegzubringen. Er hatte ein paar Fransen vom Schlafzimmerteppich unter
der Türkante erwischt und ließ nicht locker, knurrte, bis
Mel die Tür aufmachte. Das Bett war leer, das Fenster offen. Mama
saß im Nachthemd auf dem Fensterbrett, die Beine hingen draußen.
In der linken Hand hielt sie einen Unterrock. Die Hand hing wie vergessen
in der Luft.
"Was machst du da, Mama? Wie bist du da raus gekommen? Gib mir
die Hand!"
"Ich? Hab ich vergessen. Wie kommt der Unterrock hierher? —
Kannst du nicht Ordnung halten, Kind?"
Mel sagte dazu nichts, das hatte keinen Sinn. Sie half Mutter wieder
ins Zimmer. Ein zerrissenes Nachthemd und ein angefressener Teppich
- mehr Schaden war nicht zu beklagen. Warum große Worte machen.
"Nimm deine Tabletten, Ma, bitte."
"Red nicht wie mit einer Debilen, ja! Ich bin immer noch deine
Mutter. Und wenn mein Fräulein Tochter gelegentlich mal die Fenster
putzen würde, könnte ihre Mutter sich in Ruhe hinlegen."
Sie nahm die Tabletten mit einem Schluck Wasser, das Mel bereitgestellt
hatte. "Aber das Fräulein Tochter ist ja wohl was Besseres
jetzt. Warte lieber ab, bevor du dich aufs hohe Ross setzt. Wer hoch
steigt, kann tief fallen."
"Was du immer redest. Was meinst du denn? Wieso drohst du mir?"
"Glaubst du, ich kann nicht lesen? Opa hat dich als Erbin eingesetzt.
Liest du deine Post nicht?" Damit nahm sie einen grauen Umschlag
von dem Telefontischchen. Der Brief ging an Melanie, der Umschlag war
grob aufgerissen worden. Mel sah ihre Mutter an und spürte eine
starke Spannung im Nacken, entlang den seitlichen Sehnen.
Sie sagte nichts und las ihren Brief. Ein Anwalt aus Gambach teilte
ihr mit, dass sie zum Kreis der Erben ihres Großvater gehörte,
der vor drei Wochen gestorben war. Sie könne sich am Donnerstag
in der Kanzlei einfinden; dort erführe sie dann Näheres.
"Der Brief ist an mich gerichtet, Mama."
Mutter war sich keiner Schuld bewusst: "Immerhin ist Belema mein
Vater gewesen, da werd ich ja wohl das Recht haben zu erfahren, was
er im Schilde führt."
"Ma, du hast ihn schon vor zehn Jahren für tot erklärt,
weißt du das nicht mehr? Er durfte sich hier nicht mehr sehen
lassen. Sei also jetzt nicht albern. Ein Schloss an der Loire wird's
schon nicht sein. Du weißt doch, wie er gelebt hat. — Aber
ich freu mich trotzdem."
"Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Reisende soll man nicht aufhalten.
— Wie kommt dieser Riesenköter ins Haus?"
"Dieser wunderbare Hund hat gerade verhindert, dass du aus dem
Fenster fällst. Philos heißt er. Philos heißt Freund.
Seit acht Jahren."
Mutter wandte sich ab und grummelte irgend etwas von "Erdgeschoss
bloß..."
*
Alle hatten die Testamentseröffnung mit Spannung erwartet. So wie
man auf der Kirmes auf das Losröllchen hofft und doch weiß:
Leider verloren. Selbst wenn man gewinnt.
Außer dem naiven Onkel Harald glaubte niemand an plötzlichen
Reichtum. Sie saßen in der schäbigen Kanzlei wie in einer
Zahnarztpraxis. Das fadenscheinige Sofa und die müden Polstersessel
hatten bessere Tage gesehen. Immerhin war die Tür zum Büro
des Notars gepolstert mit weißem Leder und Polsternägeln
aus verblassendem Messing. Die ausliegenden Zeitschriften verlockten
niemanden hier zum Stöbern. Uralte Spiegel-Ausgaben und ein akkurat
gestapelter Block aus Geo-Heften zeigten, wie die Welt vor fünf
Jahren aussah. Da war Melanie fünfzehn und konnte endlich ihre
Zahnspange im Garten vergraben.
Die kleine Gruppe wirkte nicht sonderlich nervös. Belema hatte
keine Reichtümer gehortet, das war jedem klar, der ihn in den letzten
Jahren gesehen hatte: Ein ziemlich heruntergekommener Schausteller mit
dem ewig gleichen großkarierten, lächerlichen Anzug. Dazu
die winzigen, wasserblauen Augen, die jedoch, das musste man ihm lassen,
bis zuletzt neugierig und seltsam wissend blinken konnten. Dass Belema
so etwas wie einen letzten Willen zu Papier gebracht haben sollte, war
für die Angehörigen erstaunlich genug.
Tante Jessica sah man die Vorfreude an: Sie saß ganz vorn auf
ihrem Sessel und drehte ein rosa Taschentuch mit gesticktem Monogramm
in den Händen. Wahrscheinlich glaubte sie, dass so ein Tüchlein
ihre Trauerbereitschaft demonstrieren würde, doch ihre Augen blieben
trocken, freuten sich auf die alberne Testamentseröffnung: Noch
nach seinem Tod würde Belema sich lächerlich machen - ein
Nichtsnutz bläht sich ein letztes Mal auf. Der Mann war zeitlebens
eine Zirkusnummer. Der Dumme August.
Olaf wäre ohne sein Handy sicher nie gekommen, doch so könnte
er dabei sein, wenn es vielleicht doch noch eine Kleinigkeit zu verscherbeln
gab. Nur Onkel Harald war richtig nervös und machte angestrengt
Konversation, „Wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal in
dieser Runde gesehen? Das muss ziemlich lange her sein, was?“
Melanie fühlte sich hier nicht wohl. Sie war einfach überrascht
von der "Vorladung", wie sie es nannte. Die Verwandtschaft
kannte sie nur flüchtig. Tatsächlich floh sie wann immer möglich,
falls Verwandtschaft in Sicht kam.
Bis auf Onkel Harald waren sie nicht einmal bei der Beerdigung ihres
Opas gewesen. Deshalb war es eine gute Bestattung geworden. Wenn es
so etwas geben konnte. — Ein buntes Völkchen hatte sich auf
dem städtischen Friedhof versammelt Opas Kollegen und Freunde.
Außer Mel war keiner in Schwarz gekommen. Es war ein kleiner,
tapferer Umzug. Melanie hatte sich am Eingang ängstlich umgesehen.
Durfte man so überhaupt einen Friedhof betreten?
Ein Clown nahm ihre Hand. „Du musst Melanie sein. Belema schwärmte
oft von deinen Augen. Wir haben immer gedacht, er übertreibt. —
Magst du meinen Koffer tragen? Ich bin Pippo. Komm.“
Pippo drückte ihr ein schwarzes Köfferchen in die Hand. Er
ging mühsam, zog das linke Bein leicht nach. Am Grab bat er Melly
um den Koffer, nahm seine Trompete heraus und spielte etwas Herzzerreißendes
von Jimmy LaRocca. Sein grüner Spitzhut sah dabei so komisch aus,
dass Melanie spürte, wie ihre Tränen blockiert wurden. Als
sie sich umsah und bemerkte, dass die anderen entspannte Mienen machten
kleine Erinnerungen an den Kollegen tauschten, da löste sich der
Krampf in ihren Schultern. Sie konnte einstimmen in das Weißt-du-noch-Spiel,
wenn auch ihr Erinnern nicht so weit zurück reichte wie bei Pippo,
der mit Belema im Krieg gewesen war, bei der Truppenbetreuung in Norwegen.
Als sie später plaudernd und lachend durch das weiß verputzte
Tor den Friedhof verließen, scherte sie sich nicht mehr um die
dunklen, gebückten Gestalten, die bei der Friedhofsgärtnerei
standen und ihre schwarzen Handtaschen fester packten, als fürchteten
sie, das fahrende Volk mache sich sogleich über sie her. —
"Ich lade euch alle ein!" Onkel Harald riss Mel aus ihren
Gedanken und holte sie wieder in diese angeschlagene Kanzlei. Sofort
spürte sie wieder ihre Schultern. Wenn das so weiter ging, bekäme
sie in wenigen Minuten wieder diese grausamen Kopfschmerzen. Entspann
dich, Kind, sagte sie sich. Entspann dich.
"Unten hab ich ein thailändisches Restaurant gesehen, ganz
gemütlich. Ihr seid alle meine Gäste!"
Oh Harald, armer Onkel. Er verpulverte schon wieder, was er noch gar
nicht hatte. Was er nie bekommen würde. Er konnte einem schon leid
tun. Niemand reagierte auf seine großherzige Geste. Jessica steckte
betreten ihr Taschentuch ein, Olaf ging die Liste der letzten Anrufe
auf dem Display durch.
Onkel Harald musste jetzt irgend etwas tun. Er zog tatsächlich
sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche seiner viel zu weiten
Hose, und als er es in der Hand hielt, sah er nach, wieviel Barschaft
er denn bei sich trug. Armer Onkel Harald, halt dein Geld beisammen,
dachte Mel. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, hob er beschämt
den Hintern aus dem Sessel und schob das Etui in die Tasche zurück.
Mel bedauerte sehr, dass sie Philos zuhause bei Mutter zurückgelassen
hatte. Sie hatte Sorge, dass der Hund die Hektik der Stadt nicht gut
vertragen würde. Aber wie es aussah, war sie es, der die Aufregungen
zu viel wurden. Der Schmerz begann immer im Nacken, tief unten, und
kroch dann langsam höher bis zum Schädeldach. Jetzt machte
er sich gerade auf den Weg. Mit Philos hätte sie sich prima ablenken
können, und den anderen täte der alte Herr bestimmt auch gut.
Es war ein Golden Retriever, der mit seinen acht Jahren genug von der
Hundewelt gesehen hatte, um die Menschen in seiner Nähe beruhigen
zu können. Ob er gerade Mama beruhigen konnte?
Sie war heute morgen schlecht dran gewesen und hatte das Frühstück
nicht angerührt. Was sie jetzt wohl gerade anstellte? Jedenfalls
war mit einem Haufen Arbeit zu rechnen, wenn diese Farce hier beendet
war und Mel heimfahren könnte.
Als der Notar sich endlich ins Büro bemühte, fiel die Spannung
auf den Gesichtern zusammen wie Hefeteig in Zugluft. Der Mann sah so
furchtbar grau und verschlissen aus wie ein Autoverkäufer, dem
die Firma seit Monaten Vorwürfe macht wegen der miserablen Abschlusszahlen.
„Dr. Abstoß.“ Mehr war von seiner Begrüßung
nicht zu verstehen, die er mit einem winzigen Nicken begleitete. Nur
Melanie grinste er kurz an und hielt den Blick dann eine Sekunde zu
lang.
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