Alex Palme
Band 1
Kapitel 3
Suche nach einer Bleibe
Was einmal eine Straße war, erweist sich als Kette kleinerer
und größerer Granattrichter. Rechts und links dehnen sich Ruinenfelder.
Hier irgendwo stand noch vor gut einem Jahr das elterliche Haus. Daneben
- geduckt und bescheiden - ihr eigenes. Ein Sturm aus Feuer und Stahl hat
die ganze Herrlichkeit hinweggefegt, ihre Hoffnung zunichte gemacht. Sie
stehen mit hängenden Schultern und schauen. Wind kommt auf und weht Asche
hoch. Es riecht scharf, modrig und nach Vergängnis. Dann irren sie länger
umher und holen Erkundigungen ein. Der Kleine quengelt und will häufiger
die Brust. Vom Laufen im unwegsamen Gelände tun Käthe die Füße weh. Da und
dort haust noch wer, den sie kennt, in einem heil gebliebenen Kellergeschoß.
Sie fragen nach dem Verbleib der Eltern, nach weiteren Verwandten. So erfahren
sie Vages und es dauert, bis sie jemanden finden, der genaue Auskunft gibt.
Lüden, vordem eine ansehnliche Kleinstadt mit Münster
und Universität, besteht nun hauptsächlich aus Schuttbergen, hohläugigen
Ruinenresten und sich dazwischen labyrinthartig verzweigenden Pfaden. Einziger
Orientierungspunkt Turm und Kuppel des alles überragenden Gotteshauses.
Das hatte man verschont und mit ihm die benachbarten Bauten der City. Familie
Palme fragt sich zum jenseitigen Stadtrand durch. Ihre Mägen knurren inzwischen
lautstark. Eine Strecke geht es am Fluß lang, der reichlich grauen Schlamm
und Abfälle jeglicher Art heran- und davonträgt. Traurig starrt Käthe ins
Wasser und denkt an die unbeschwerten Jahre, wo sie mit ihren Freundinnen
manchen Sommerabend hier saß, die Gitarre im Arm, die Dämmerung erwartend.
Das Licht der sinkenden Sonne schwamm rotgold auf der Flut.
Boote zogen vorüber. Flußmöwen stiegen auf, um sich pfeilschnell
auf das Gold zu stürzen. Gewaltsam löst sie sich. Und der Kleine beginnt
wieder zu greinen, weil ihr Abwenden zu heftig geschieht.
Dann halten sie plötzlich vor jenem Haus. Ihre Augen wandern
zum dritten Stock hoch. Ihr Blick ist voll Zweifel. Der Kleine hat sein
Gesicht in Käthes Armbeuge geschmiegt. Vor ihrem Inneren rollt wie ein Film
das Geschehen der letzten Jahre vorüber. Mutters plötzlicher Herztod. Man
schrieb das Jahr 39 und Eduard, ihr einziger Sohn, wurde einberufen. Das
gab ihrem ohnehin schwächlichen Zustand den Rest. Vater brauchte nicht ins
Feld. Er war zu wichtig und schob Dienst an der Heimatfront, wie man zu
sagen pflegte. Die älteste Tochter Julie, die einem Stift in Winterschlag
vorstand, kehrte heim und führte Vater den Haushalt. Käthe besuchte die
Musikhochschule und wollte Pianistin werden. Daraus wurde dann nichts. Matthias
mit seinen schmachtenden Augen kam ihr in die Quere. Und er hatte gerade
seine Ausbildung als Kantor und Organist absolviert. Damit war der Musik
fürs erste genüge getan. Doch ihre Heirat verzögerte sich. Eines Abends
brachte Vater seine junge Sekretärin mit nach Hause und stellte sie als
künftige Stiefmutter vor. Zufällig waren die Geschwister Hartmann vollzählig.
Eduard weilte auf Fronturlaub. Sie fielen aus allen Wolken. Keiner konnte
Vaters Wahl gutheißen. Auguste Bredow paßte nun einmal nicht zu ihnen. "Und
überhaupt", zischelte Julie, als Vater für kurze Zeit den Raum verließ.
"Ich bitte Euch! Ein Mittfünfziger!" Sie schnaubte verächtlich,
"und nimmt sich eine Frau, die gut und gern unsere Schwester sein könnte."
"Wo Mutter mal gerade ein knappes Jahr unter der Erde ist", ergänzte
Eduard grimmig. Vater ließ sich nicht beirren und bestellte das Aufgebot.
Julie reiste unter Protest gleich zurück nach Winterschlag. Verdrossen lief
Eduard aus dem Haus und betrank sich. "Und Du?" Vater blickte
provozierend in Käthes Augen. Sie war von zarterem Gemüt als Julie und weniger
aufbrausend als Eduard. Sie senkte den Blick. Hauchte ergeben: "Du
mußt schließlich selbst wissen, was Du tust." So waren Matthias und
sie die einzigen, die bei der Trauung anwesend waren. Und nach ihrer eigenen
Hochzeit überließ Julius Hartmann ihnen das kleine Nachbarhaus als Nest
für ihren Honigmond. Durch den Krieg wurde die Kantorstelle an der Sankt
Eusebius-Kirche frei. Vater Hartmann hatte Einfluß genug, seinen Schwiegersohn
dort unterzubringen. Auch bestand keine Gefahr, daß Matthias ins Feld rücken
mußte. "Männer mit halben Lungen nehmen die nicht", witzelte er.
Schlug mit flacher Hand auf seinen Brustkasten, worin ein stillgelegter
Lungenlappen, Überbleibsel einer glimpflich verlaufenen Tuberkulose, sein
kurzatmiges Dasein fristete. Die Kriegsjahre schleppten sich hin. Es gab
immer stärkere Einschränkungen an
Bewegungsfreiheit und Lebensstandard. Das schuf
Unzufriedenheit und äußerte sich in einem gereizten Miteinander. Auguste,
Vaters zweite Frau - es fiel niemandem ein, sie Mutter zu nennen - wurde
schwanger. Die Geschwister Hartmann bekamen eine Stiefschwester, die auf
den Namen Sabine getauft wurde. Im Sommer 1944 geschah es, daß auch Käthe
gesegneten Leibes wurde. Und das just zu einer Zeit, wo feindliche Flugstaffeln
die Städte immer heftiger bombardierten und kaum eine Nacht verging, ohne
daß die Bewohner der Straße in die Luftschutzkeller flüchteten. Das Verhältnis
zu den elterlichen Nachbarn wurde von Tag zu Tag gespannter. Es zeigte sich,
daß Auguste eifersüchtig auf die Zuneigung ihres Mannes zu der sanftmütigen
Tochter war. Augenblicke kamen, wo sich beim Heulen von Sirenen, Krachen
und Bersten der Bombeneinschläge nur noch angeschrieen wurde. Und einmal
brachte Vater ein Schreiben der Stadtverwaltung mit nach Hause: "Allgemeine
Evakuierung ist angeordnet", las er vor. "Das heißt", grübelte
Matthias düster, "wir müssen alles im Stich lassen und abwarten, was
wird." Vater Hartmann nickte nachdenklich. "Ich hab mich bereits
entschieden", äußerte er sich bestimmt und sah seine Frau und die blondlockige
Tochter Sabine liebevoll an. "Wir gehen in die Kerbelberge. Dort wohnt
ein alter Schulfreund, der uns sicher gern für einige Zeit Unterschlupf
gewährt." Seine Tochter machte große Augen: "Und wir?" Hartmann
wiegte bedauernd den Kopf: "Für so viele ist da leider kein Raum."
Sie wandte sich um, fixierte stirnrunzelnd ihren Mann, worin die Frage enthalten
war: Und Dein Bruder Leo? Matthias senkte müde den Blick, ruckte dabei hilflos
die Achseln. Das hieß, der bescheidene Hof ernähre gerade mal die achtköpfige
Familie. Weitere Mäuler wären eine zu große Belastung. Vater Hartmann hob
die Hand. Ihm war die stumme Zwiesprache nicht entgangen. "Wartet mal
..." Er griff den Lüdener Anzeiger und schlug eine Weile Seiten um.
"Hier steht, daß die Stadt Plätze in Niedersachsen angefordert hat."
Sah Matthias über den Rand seiner Brille an: "Ich an Deiner Stelle
würde mich bald mal näher erkundigen." Nicht zu verkennen war der süffisant
zufriedene Ausdruck auf Augustes Mienenspiel.
Die Luftangriffe folgten immer rascher aufeinander. Und
es kam der Tag ihrer Abreise. Vater schüttelte allen herzlich die Hand.
Auch klein Sabines Patschhändchen wurde herumgereicht. Auguste gab ihnen
flüchtig die Fingerspitzen, die sie anschließend demonstrativ an ihrer Jacke
abrieb.
Nicht ohne Herzklopfen stehn sie nun vor dem
breitschultrigen Gebäude. Sie kommen sich vor wie Bettler. Länger herumirren
können sie auch nicht. Entschlossen sehen sie sich an und gehen über das
holprige Kopfsteinpflaster auf die Tür zu.
Auguste starrt ihnen entgeistert entgegen, wie sie nach
Atem ringend die letzten Stufen emporsteigen. "Ihr seid das?"
Noch etwas kurzatmig aber mit festem Schritt geht Käthe auf die Stiefmutter
zu: "Ja wir sind es nur. Hattest Du jemand anderen erwartet?"
Verlegen kraust Auguste die Mundwinkel: "Kommt rein." Vater empfängt
sie im Wohnzimmer.
Entschuldigend klopft er auf sein Holzbein.
"Granatsplitter", erklärt er lächelnd. "Hat sich verirrt,
das blöde Ding." Und auf Käthes großäugigen Blick reagierend: "
Mußte nicht sein. Aber ich komm ganz gut klar damit. Nur manchmal, so wie
heute, plagt mich der Phantomschmerz." Dann sieht er den Säugling an
Käthes Brust: "Ein Enkel?" Sie nickt. "Und wie heißt der
Kleine Familienzuwachs?" Matthias räuspert sich: "Getauft ist
er noch nicht. Das wollten wir hier erledigen. Diaspora." Vater senkt
verständnisvoll die Lider. Käthe erklärt hastig: "Wir wollen ihm zwei
Namen geben, Julius Alexander, nach seinen beiden Großvätern." "Wovon
ja nur noch einer übrig ist", schmunzelt der Alte. Blickt seinen jüngsten
Sippensproß scharf an, der ohne zu zwinkern zurück starrt. "Aja",
brummt er zufrieden, "Und wie werdet Ihr ihn rufen?" Käthe blickt
Hilfe suchend auf Matthias. Der hüstelt erneut die Stimme frei: "Weißt
Du, Alex spricht sich flüssiger, dachten wir." Der frischgebackene
Großvater grinst: "Versteht sich. Julius ist auch heute keiner der
gängigen Namen mehr. Und Ihr würdet dem Kleinen weiß Gott keinen Gefallen
tun, wenn Ihr ihn mit solch einer Erblast in die Schule schicktet."
Erleichterung macht sich auf beider Gesichter breit.
Das gemeinsame Abendbrot mundet den ausgehungerten Heimkehrern
besonders gut, obschon es ein simpler Eintopf ist. Selten konnten sie sich
in letzter Zeit richtig satt essen. "Ich kann Euch für ein paar Tage
auf Notbetten unterbringen", erklärt Vater Hartmann. "Aber eine
Dauerlösung ist das nicht." Auf Käthes erschrockenen Blick hin winkt
er hastig ab: "Keine Sorge. Morgen werden wir uns dem Problem ausgiebig
widmen. Jetzt schlaft erst mal und erholt Euch."
Sie sitzen im Wohnzimmer und schauen aus hoher Warte auf
die Stadt hinab. Fern ragt das Münster aus der Trümmerlandschaft heraus.
"Du willst sicher wieder an einer Kirche
unterkommen", erkundigt sich Vater, Matthias fest in die Augen sehend.
Der nickt: "Wenns eben machbar ist." Der Alte wiegt bedenklich
den Kopf. "Ich hab ja immer noch meine speziellen Beziehungen. Aber
eine Organistenstelle ...? Nein, mein Junge. Damit kann ich nicht dienen.
Eine Menge anderer Vakanzen wären verfügbar. Das hier leider nicht."
Schon läßt Käthe den Kopf hängen. "Nur mal langsam, Kleines!"
Er streichelt ihr die blasse Wange: "Noch ist Polen nicht verloren.
Mir kommt da gerade ein Gedanke." Hebt die Rechte und schnippt mit
Daumen und Zeigefinger. "Winterschlag!" Die Tochter sieht ihn
groß an: "Du meinst, Julie?" "Genau die meine ich."
Ächzend und sich auf die Krücke stützend stemmt er sich hoch und stakst
zum Bücherschrank. Ihm entnimmt er ein Couvert. Faltet das Blatt auseinander
und studiert eine Weile schweigend den Inhalt. Zuerst aber verdunkelt sich
der Blick. "Ja", räuspert er sich. "Das solltet Ihr wissen.
Eduard ..." "Ist tot?", haucht Käthe. "Nein. Aber es
hat ihn wüst erwischt an der Front. Ein übles Leberleiden." "Der
Ärmste!" Käthe birgt das Gesicht in beide Hände. "Das nicht allein",
seufzt Vater Hartmann weiter. "Ein Schuß nahm ihm auch noch das Augenlicht."
Matthias schluckt: "Also blind." "Ja", hüstelt der Alte,
Tränen unterdrückend. "Julie sorgte für Unterbringung im Winterschlager
Agathenstift, dem sie ja vorsteht." Läßt sich ächzend nieder und glättet
den Brief auf dem Tisch. "Jetzt zu eurem Problem. Hmmm, wo war die
Stelle. Richtig. Hier steht es. Julie schreibt, daß der alte Mühlmeier letzten
Winter verstorben ist." Käthe hebt überrascht den Kopf. "Mühlmeier
tot", fragt sie traurig. "Hat mir oft genug Kirschen geschenkt,
wenn ich in den Sommerferien zu Besuch in Winterschlag war. Der gute Mann
vergaß nie, daß ich die so gerne esse." Matthias hakt rasch nach: "Und
der war Organist?" "Und ein gar nicht mal so schlechter",
erinnert sich Julius Hartmann. "Ich besuchte gern sein Orgelspiel in
der Sankt Veitkirche." Damit schob er das Blatt zurück in den Umschlag.
"Ich an Eurer Stelle würde mich dort bald mal vorstellen. Und wenn
Ihr ein wenig Glück habt ..." "Was sagtest Du? Letzten Winter",
brummt Matthias skeptisch. "Das ist lange her. Inzwischen ist der Posten
sicher wieder besetzt." Käthe knufft ihn ärgerlich in die Rippen. "Wer
will das wissen? Wir sollten es auf jeden Fall versuchen."