Hanno Erdwein
Alex Palme
I. Band
Der Junge im Baum
1. Kapitel
Stürmische Geburt
Letztes Kriegsjahr. Ostwärts rollen Panzer
der Alliierten vor an den Rhein. Aus der Luft werden Städte
bombardiert. Viele suchen Schutz in weniger dicht besiedelten Regionen
des Reichs. Und aus Berlin nichts als sinnlose Durchhalteparolen
Hitlers und Goebbels. In eine Kleinstadt Niedersachsens flüchtet
das ein knappes Jahr verheiratete Ehepaar Palme. Obschon es normalerweise
für einen Kantor und Organisten kein Problem sein dürfte,
Arbeit zu finden, haben die hochschwangere Käthe und ihr Mann
Matthias ein nur kärgliches Auskommen. Im Lutherischen findet
ein Organist römischen Glaubens so rasch keine Anstellung.
Bliebe noch das Klavierstimmen. Doch wer in seiner guten Stube zufällig
ein Piano herumstehen hat, gibt Geld aus, es stimmen zu lassen?
Man hat, Gott sei es geklagt, andere Sorgen. Kirchenglocken, Orgeln,
ein selten gehörter Klang in der Zeit berstender Bomben und
zusammenstürzender Häuser. Wo noch gebetet wird, geschieht
es gesenkten Hauptes und mit verzweifelt verschränkten Händen.
Nein, für Matthiasï edle Profession ist leider kein Bedarf.
Er kann sich glücklich schätzen, wenn er gelegentlich
einen Stapel Bretter zu Brennholz zerhacken darf und dafür
einen halben Laib Brot, einen Kanten Käse oder eine Schale
Milch nach Hause bringt.
Es ist Winter, ein schrecklich strenger Winter.
Die Einheimischen sind mürrisch und blicken scheel auf die
ungebetenen Gäste, die nichts einbringen und mit denen sie
das Wenige noch teilen sollen. Wenn doch dieser verdammte Krieg
bald zu Ende wäre! Und jetzt werden auch noch Halbwüchsige
und Kinder aufgeboten, den vorrückenden Feind aufzuhalten!
Das ist verbrecherisch. Nur wagt niemand, das laut zu sagen. Abends
kriecht man nah ans Radio und stellt BBC ein. Die sagen einem, wie
es wirklich aussieht im Osten und in den zerbombten Städten
am Rhein. Dennoch weiteres Aufpeitschen. Gehässigere Hetzreden
und Durchhalteparolen. "Diese Schweine!", knirscht Matthias
Palme, das Ohr am Empfänger. "Still!", mahnt Käthe,
"wenn Dich jemand hört!" Er stellt den Kasten ab
und dreht sich zu ihr um. Sie sitzt ermattet im Korbsessel, die
Hände über dem hochgewölbten Leib gefaltet. Schön
ist sie immer noch, seine Käthe mit den braunen Zöpfen,
die sie zur Krone aufgesteckt hat. Die Schwangerschaft und die Entbehrung
der letzten Zeit verleihen ihren Zügen einen Anflug von Adel.
Das Rosa ihrer Wangen ist einer durchscheinenden Blässe gewichen.
"Wenn sie mir nur nicht krank wird", sorgt sich Matthias.
Steht auf. Tritt neben sie. Sein Blick fragt besorgt: Wann? Sie
senkt ergeben die Lider und murmelt: "Könnte sein, daß
es bald soweit ist." "Dann hol ich die Hebamme, ja?"
Käthe seufzt. Er schlüpft in den Mantel und drückt
den Hut fest in die Stirn.
Vor der Tür empfängt ihn stürmisches
Schneetreiben. Ganz schön heftig für Mitte März!
Er stemmt er sich gegen das Wetter. Der Schnee liegt schon knöchelhoch.
Häuser sind nur noch zu ahnen im früh verdämmernden
Taglicht. Die Hebamme ist nicht daheim. "Versuchen Sie es mal
bei So-und-so. Und wenn sie da nicht ist, könnten Sie es bei
Da-und-dort probieren." Der angehende Vater stapft verdrießlich
weiter. Bei der ersten Adresse trifft er die Frau schon nicht mehr
an. Die zweite hat sie vor gut einer halben Stunde verlassen. Niemand
weiß, wohin sie sich wenden wollte. Also nochmal zu ihr nach
Haus. Dort aber ist sie bis jetzt noch nicht aufgetaucht. Mittlerweile
ist es Nacht. Schneefall aus tiefschwarzem Gewölk. Deprimiert
macht er sich auf den Heimweg. Wenn Käthe nun niederkommen
würde - was dann? Er mit seinen beiden linkischen Händen
wär ihr keine Hilfe. Im Gegenteil. Und es ist ihre erste Geburt.
Seine kleine zarte Käthe. Warme Rührung drückt gegen
seine Augen und das Gesicht wird nicht nur naß vom Schnee.
Die Sorge läßt seine Beine hastiger ausgreifen und dem
vorläufigen Zuhause entgegeneilen. Er stolpert die glitschigen
Steinstufen hoch und greift nach der Klinke. Von drinnen gellt ihm
ein Schrei entgegen. "Käthe!", ruft er in Panik,
stürzt, alle Türen offen lassend in die Stube. Wird dort
von einer wütenden Hebamme empfangen: "Machen Sie gefälligst
die Türen zu! Sollen Ihre Frau und Ihr Sohn eine Lungenentzündung
bekommen?" Matthias gehorcht, bevor er sich Vaterfreuden hingeben
kann.
(c) 10. März 2001
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