Erasmus Schöfer:
Zwielicht
Die Kinder des Sisyfos
Zeitroman
Dittrich Verlag 2004
593 Seiten
ISBN 3-920862-58-9
Die siebziger Jahre sind in Schöfers "Zeitroman" gut
aufgehoben. Das Buch ist ein Archiv der Kämpfe und Zitterpartien
dieser Jahre. Geschrieben von einem Archivar, der offenbar abgetaucht
ist in die Zettelkästen, Flugblattsammlungen und Gesprächsprotokolle
dieser Zeit. Der all das verwertet, was die Apo-Opas und Omas auf den
Dachboden verbannt haben. Wer in dieses Zwielicht lesend eindringen
will, kann das an der Hand dieses dickleibigen Zeitreiseführers
tun. (Weshalb einige Kollegen das Buch gleich in den Schulkanon drücken
wollen. Damit die Jugend Anschauungsmaterial habe!)
Das Buch ist (dennoch!) lesbar, weil es Geschichten erzählt.
Da ist Armin Kolenda, die Hauptfigur des Romans, mit linker Normkarriere:
Sozialarbeiter in einem katholischen Jugendzentrum, gefeuert, weil er
angeblich Straftaten der Klienten gedeckt hat. Schließlich bestraft,
weil zwei Drogentürken sich auf seine Kosten freikaufen.
Er gerät ans Schreiben für ein linkes Blatt. Damit hat der
Roman genug Möglichkeiten, Tagesereignisse zu schildern. Erinnern
Sie sich noch an die Begeisterung, mit der Sie einmal Betriebsübernahmen
durch die Werktätigen begrüßt haben? Ich z.B. fand faszinierend,
wie das bei Rosenthal oder Porst losging. (Was ist daraus geworden,
eigentlich?) Im Buch ist es die Glashütte Süßmuth, Hessen
1971. Der Schreibende, Mitleidende und Mithoffende berichtet, wie es
war, was gelang, was schiefging. Schöfer macht das unsentimental,
dokumentarisch. Wohlwollend und abgeklärt. Die minutiöse Wiedergabe
einer Betriebsversammlung aber ist nicht jedermanns Sache, fürchte
ich. Das hören sich - auch im Buch - nur Beteiligte und Begeisterte
gern an. Schöfer ist jedoch mit Kolenda eine Figur gelungen, der
man zuhören mag, mit der man leidet und sich freut. Da ist vor
allem die schlichte und fast schon tragische Liebesgeschichte, die durchs
Buch trägt: Von der Glashütte nach Wyhl, wo es gilt, Straßentheater
gegen Atomkraft zu machen. Kolenda, getrennt lebender Vater zweier Buben,
verliebt sich in Rosalie, engelhafte Bauerntochter. Es ist eine Liebe,
wie sie im Buche steht. Woran sie scheitert, sei hier nicht verraten.
Der Journalist unterstützt nicht nur basisdemokratische Zellen,
er fördert auch den Werkkreis "Literatur der Arbeitswelt"
- Sie erinnern sich? Haben vielleicht noch ein Bändchen aus dem
FischerVerlag im Reagal? Wollen Sie mal lesen, wie es in den Werkstätten
der schreibenden Arbeiter zuging? Knallharte Textarbeit? Bierholen und
Kinderkriegen? Wollen Sie wirklich? Na, viel Vergnügen.
Ein Buchmessemitschnitt wird geboten, mit allem Drum & Dran, auch
nach Messeschluss dürfen wir dabei sein und Eitelkeiten goutieren.
Oder weiterblättern.
Vieles wirkt an diesem Buch montiert. Nervig und den Lesfluss immer
wieder hemmend sind die furchtbar originellen Schreibweisen, an denen
dem Autor etwas liegen muss. Was nur? Ist es nur "fysische Emfase"?
"Kannstu nachlesen."
Ich zitiere nichts mehr davon.
Vielleicht haben Sie Spaß daran, Berühmtheiten noch einmal
vorgeführt zu bekommen? Ein Auftritt Wallrafs vielleicht? Ein Kritikerstreit
mit Peter Maiwald? Oder gar ein Livemitschnitt eines "Intervjus"
mit Schöfer selbst?
Mögen Sie Liebeslyrik? Kolenda schreibt nicht übel!
Das Buch ist kein Bauchladen. Es gibt Klammern, die es zusammenhalten.
Aber man kann es als Bauchladen benutzen.
Schöfer macht weiter. Zwielicht ist erst der zweite von vier geplanten
Zeitromanen. Ob aus dem Autor ein westdeutscher Balzac wird?
Sie wissen also jetzt, worauf Sie sich einlassen. Wenn Sie Ihre (wahrscheinlich
ziemlich verdrängte) linke Vergangenheit interessiert, werden Sie
diesem Buch viel abgewinnen. Den Schülern wage ich es nicht zu
empfehlen, es sei denn, sie fragen nach dem Leben ihrer Großväter
und -mütter.
Wenn Sie nur eine schöne Liebesgeschichte lesen wollen, mailen
Sie mir, ich nenne Ihnen die Seitenzahlen. Mehr als hundert werden es
nicht sein.
Ein Buch, so recht zu verschenken zur Feier eines Gewerkschaftsjubilars.
© Simon Croll 2004
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